„Zeit Ihres Lebens“ von Dirk Gieselmann

„ Alle Dinge sind in Ordnung, bis sie es plötzlich nicht mehr sind.“ Seite 30

In seinem Roman Zeit ihres Lebens zeichnet Dirk Gieselmann das zarte Porträt einer Liebe, die sich dem Leben entzieht, ohne sich ihm ganz zu verweigern – eine stille Affäre, die viermal im Jahr aufblüht und ebenso verlässlich wieder vergeht. Die Geschichte beginnt in jenem tristen Jahr 1983: Frieda Brunner, Grundschullehrerin, verschläft, vergisst ihren Schirm, hastet durch strömenden Regen zur Straßenbahn. Dort trifft sie auf Georg Naumann, 41 Jahre alt, Handelsvertreter für medizinische Geräte, verheiratet, ein Mann, der seinen Alltag trägt wie ein Kleidungsstück, das ihm fremd geworden ist.

Was als beiläufige Begegnung beginnt, entwickelt sich zu einem Ritual der Heimlichkeit: März, Juni, September, Dezember – vier Tage, viermal im Jahr gehören ihnen allein. Eine amour fou, so regelmäßig wie die Jahreszeiten, und doch außerhalb jeder Ordnung. Gieselmann schreibt über das Dazwischen, das Verborgene, das Unaussprechliche einer Beziehung, die nicht sein durfte, aber dennoch war.

Sein Stil? Ein langsamer Blues. Schwermütig, aber von tiefer Schönheit. Gieselmann gelingt das Kunststück, der Tristesse Glanz zu verleihen. Seine Sprache pulsiert vor Leben, gerade wenn sie über das Verblassen desselben reflektiert. Man möchte seine Sätze rahmen.

„Die Wolken brachen, eine nach der anderen. Die Straßenbäume standen schwankend da, wie zottige Kamele und planten ihren Rückzug.“ (S. 7)

„Meisen saßen, fröstelnd und beleidigt in den kahlen Ästen: Sie hatten sich den Flug nach Süden in diesem Jahr nicht leisten können.“ (S. 135)  

Solche Zeilen sind nicht bloß Beobachtungen – miniaturhafte Gemälde des Alltags, getragen von einer Sprache, die poetischer kaum sein könnte. Man liest sie, als höre man einem Song zu, der einem allzu vertraut ist. 

Frieda, linkisch und warm, in ihrem Beruf aufgehoben, wartet ein Leben lang. Georg hingegen, von der Welt müde, von seiner Familie unverstanden und überfordert, flüchtet in die wenigen Tage, in denen er sich nicht erklären muss. Ihre Beziehung ist ein geheimer Zufluchtsort. Er ist kein Liebhaber im klassischen Sinne, eher ein Mann auf Zeit, eine Erscheinung, die kurz Licht spendet und dann wieder im Grau des Alltags verschwindet.

Zeitgeschichte fließt leise mit. Von Halley’s Komet bis 9/11 markiert Gieselmann die Jahrzehnte – als erinnere er uns daran, dass das Private immer auch im Schatten des Weltgeschehens steht. Und so schreitet die Zeit voran, unerbittlich, und mit ihr diese stille Liebe, die sich dem Zerfall widersetzen möchte.

Doch nicht alles überzeugt: Die Einsprengsel des magischen Realismus – etwa Dialoge mit einem sprechenden Hund – wirken wie Fremdkörper. Hier kippt der Roman kurz in eine andere Tonlage, erinnert an Murakami, ohne dessen surrealistisches Gleichgewicht zu erreichen. Der Realismus des Textes, so behutsam und fein gezeichnet, wird von diesen Momenten eher gestört als bereichert.

Georg ist kein Held. Vielleicht nicht einmal besonders sympathisch. 

Seine Ehe ist erkaltet, das Verhältnis zur Familie von passiver Aggression und innerem Rückzug geprägt. 

Statt Verantwortung zu übernehmen, flüchtet er – in den wortlosen Trost eines Wesens, das ihn nicht fordert: sein Hund. Männlich, folgsam, verlässlich – ein Spiegel dessen, was Georg im echten Leben nicht auszuhalten scheint. 

Man fragt sich: Warum nicht der Schritt hinaus aus der Lüge? Warum nicht die Entscheidung für ein Leben, das er wirklich meint? 

Aber Georg ist kein Tyrann, sondern eher ein Feigling. Und paradoxerweise liegt darin auch seine Tragik: Er liebt. Auf seine leise, unentschlossene Art – unbeholfen, aber nicht weniger ernsthaft. Vielleicht kann man ihm nicht verzeihen aber ein wenig Verständnis aufbringen.

Zeit ihres Lebens ist ein stilles, trauriges Buch, das zu seinen Leser*innen spricht – leise, eindringlich, klug. Es stellt Fragen, die uns alle betreffen: Wer waren wir? Wer wollten wir sein? Und was bleibt von uns, wenn alles vorbei ist?

„Die Zukunft schrumpft, die Vergangenheit wächst.“

Ein Roman wie ein langsamer Blues. Und vielleicht ist es genau das, was ihn so bewegend macht – gerade für jene, die ihr Leben in Dur führen.

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