„Vergesst es. Vergesst mich einfach.“ Seite 245
Ein schwedischer Sommer, ein altes Sommerhaus, zwei Brüder auf der Fahrt in die Vergangenheit – so beginnt Alex Schulmans Vergiss mich, ein Roman, der sich langsam, fast tastend, in die seelischen Landschaften einer Familie vorwagt, deren schönster Ort zugleich der traurigste geworden ist. Die Reise führt nicht in die Ferien, sondern in die inneren Brüche einer Kindheit, die mit Liebe begann und im Schatten der Sucht einer Mutter endete.
Alex besucht mit seinem Bruder die Mutter, die sich seit Tagen mit Alkohol betäubt. Das Treffen wird zum Auslöser einer schmerzvollen Rückschau.
Wie wurde aus der strahlenden Mutter, die er mit fünf Jahren bedingungslos liebte, eine fremde Frau, die im Bett liegt und nicht mehr aufstehen will?
Schulman beginnt eine leise, schmerzhafte Spurensuche. Aus der Erinnerung an eine helle Kindheit wird ein Puzzle aus Angst, Sprachlosigkeit und Schuldgefühlen. Es ist kein laut klagender Text, sondern ein leises Protokoll des allmählichen Verlusts.
Alex Schulman schreibt autobiografisch – und doch literarisch so durchdrungen, dass seine Geschichte über das Private hinausweist. Seine Sprache ist klar, fast nüchtern, gerade dadurch aber von einer tiefen Melancholie durchzogen. Die Sätze tragen eine Tonlosigkeit in sich, die lauter wirkt als jeder Ausruf. Schulman komponiert seine Dramaturgie mit feinem Gespür für das Unspektakuläre: kleine Gesten, scheinbar belanglose Dialoge, kurze Szenen am Küchentisch – alles erhält durch seine Betrachtung Gewicht.
Dabei gelingt es ihm, die Dynamiken einer Familie mit einer alkoholkranken Mutter ohne Pathos, aber voller Verletzlichkeit darzustellen. Das Schweigen, das die Familie zusammenhält, wird zum eigentlichen Drama. Die Brüder werden zu Komplizen der Sucht, aus Angst, die fragile Nähe zur Mutter zu verlieren. Schulman analysiert diese Co-Abhängigkeit nicht aus sicherer Distanz, sondern schreibt sich tastend durch eigene Scham, Ratlosigkeit und den tiefen Wunsch nach Harmonie – selbst als erwachsener Mann.
Vergiss mich ist kein versöhnliches Buch, aber ein notwendiges. Es legt offen, was Familien oft verdecken: die Ohnmacht vor dem Verfall eines geliebten Menschen. Schulman vermeidet große Gesten, aber gerade dadurch rückt er seine Figuren in ein scharfes Licht. Aus Angst wird Wut, aus Wut Apathie – und daraus eine kindliche Schuld, die der Erzähler nie ganz ablegen kann.
Fazit:
Alex Schulman hat mit Vergiss mich einen ebenso schlichten wie erschütternden Text vorgelegt. Die Melancholie, die sich durch jede Seite zieht, wirkt wie ein feiner Nebel – nicht lähmend, aber allgegenwärtig. Dieses Buch liest man nicht in einem Zug, sondern in Etappen – nicht, weil es schwer zugänglich wäre, sondern weil es zum Innehalten zwingt. Eine klare Leseempfehlung für alle, die Literatur nicht nur konsumieren, sondern spüren wollen.