„Hoffnung ist Liebe, die sich erinnert, Seite 166
Henrik Szántós Roman Treppe aus Papier wagt ein Kunststück, das verblüffend einfach klingt und doch von großer formaler Kühnheit ist.
Ein ganzes Haus also die Summe aller Rohre, Steine, Böden, Leitungen erzählt, ein Gedächtnis aus Mauerwerk.
Dieses Haus ist Geheimnisbewahrer, denn es hat alles verinnerlicht, was in ihm geschieht. Es kennt das Heranwachsen und Siechen. Das Kommen und Gehen, das Vertreiben und das Platz einnehmen.
Szántó lässt sein erzählendes Gebäude im Zeitraffer durch die Jahrzehnte jagen. Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart schieben sich hintereinander wie die Glasbilder einer Laterna Magica. Bild um Bild wirft es an die Innenwand der Erinnerung, flüchtig, schimmernd, überbelichtet und manchmal gnadenlos klar.
Die Leben der Bewohner streifen sich entlang einer Treppen. Da sind zunächst die Titelträger, Postmeister und Räte; später, nach dem Krieg, die Versehrten, dann italienische Zuwanderer. Frauen bleiben lange „gesichtslos hinter den Namen ihrer Gatten“, bis Vornamen sich behaupten, später Neuankömmlinge mit anderen Sprachen, anderen Geschichten.
Doch das Haus ist ein Gastgeber ohne Vorurteil, jede neue Welt, jede neue Sprache heißt das Haus willkommen.
Besondere Zuneigung entwickelt es zu drei Mädchen: Ruth, Irma und Nele. Drei Leben, zwei gestern, eine heute, eines lang, eines kurz, eines noch im Werden.
Das Haus fühlt mit ihnen. Es freut sich und leidet mit ihnen, möchte beschützen, kann aber nicht eingreifen. Es bleibt Zeuge und Zeugnis.
Wenn ein Satz die Vergangenheit aufsprengt
Dann sprengt ein einziger Satz die Vergangenheit auf. Gerade hat Nele im Geschichtsunterricht etwas über die Nazis gehört, kommt das Satz zu ihr: „Das war in deiner Familie nicht anders.“
Ungläubig beginnt sie zu graben, Schicht um Schicht in der eigenen Familie freizulegen.
Und Szántó verdichtet Neles Erkenntnis in einen Satz:
„So rasch wird Handeln Erinnerung und Erinnerung Ignoranz.“ (S. 198)
Während die Eltern verstummen, sprechen die Wände weiter. Sie wissen, was damals geschah und was heute wieder geschieht. „Da liegt was in den Ritzen. So wie der Schimmel am Saum der Fuge überdauert, wenn nicht gründlich gescheuert wird.“ (S. 83)
Ein Satz, eine Warnung: brauner Dreck bereinigt sich nicht von selbst.
Szántó schreibt in raschem Tempo, fast atemlos, als ob das Haus selbst nach Luft ringe, erzählen muss, bevor es selbst Geschichte ist. Die Gleichzeitigkeit von Damals und Heute ist ein kluger Kunstgriff. Er zeigt, wie fragil das Leben ist. In einem Moment fühlt man sich sicher und behütet, im nächsten wird einem alles genommen.
Das Nebeneinander der Schicksale rückt beklemmend nah: erst friedlich, dann unzufrieden, schließlich verführbar. Gier und Hass sickern durch die Etagen. Plötzlich attackiert man den Nachbarn. Menschliche Abgründe beschreibt Szántó mit klarem Blick beschreibt und auch, dass deren Skrupellosigkeit allzu oft ohne Folgen blieb. Vielleicht, so lässt das Haus ahnen, hatten manche später „ein Unbehagen“.
Das Haus ihnen vergibt nicht.
Doch Treppe aus Papier ist kein reines Anklagebuch. Szántó kann auch leise. Er kennt die Töne von Freundschaft, ersten Lieben, zärtlichen Begegnungen. Und er besitzt Humor:
„…aber wenn Menschen komplett widerstandslos 18 werden, laufen sie Gefahr, die charakterliche Tiefe von Joghurt zu erreichen.“ (S. 109)
Diese Leichtigkeit rettet den Roman davor, zu einem düsteren Archiv zu werden. Stattdessen wird er ein Atemraum aus persönlichen Geschichten. Ein Haus, gesichtslos von außen und voller Geschichten im Inneren, denen man gern weiter lauschen möchte.
Am Ende bleibt ein Auftrag
„Krass, wie wenig wir darüber wissen oder wissen wollen“, sagt Nele.
Damit erteilt das Haus uns einen unmissverständlichen Auftrag.
Szántós Roman ist eine Erinnerung daran, dass Orte hören, was wir vergessen wollen. Und dass Schweigen niemals unschuldig ist. Eine sehr empfehlenswerte Geschichte.



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