„Erinnerungen eines Mädchens“ von Annie Ernaux

„Erinnerungen eines Mädchens“ von Annie Ernaux

„Jeden Tag bilden Männer irgendwo auf der Welt einen Kreis um eine Frau, um sie zu steinigen.“

55 Jahre sind seit dem Sommer 1958 vergangen. Die Autorin holt autofiktional ihr jüngeres Ich aus dem Dunkel des tapferen, jahrelangen Verdrängens. Es ist der Versuch, eine alte Wunde zu schließen, die von der Zeit nicht geheilt wurde.

Es ist die Geschichte des Jahres der ersten großen Freiheit eines ungeduldigen, behüteten Mädchens, das endlich ihrer romantischen Fiktion von Liebe näherkommen möchte.

„Das Gedächtnis der Scham ist erbarmungslos.“

Diese Betrachtungen des eigenen unerfahrenen Selbst steigen wie Platzpatronen auf, dröhnen betäubend in den Ohren und schlagen ins Gesicht. Eine Reflektion im Spiegel, ein kurzes Aufmerken, die Ignoranz der Jugend tut weh in der Erinnerung.

Das Tor zur Frau stößt sie endlich auf und tritt ein in die gehauchten Geheimnisse der Sexualität. Verklärt mit überromantisierten Vorstellungen von Liebe. Wie rein diese Vorstellung auch ist, sie trägt schon den Keim der Verderbnis in sich.

Die Dissonanz aus der Angst vor dem Neuen und dem absoluten Willen, dazuzugehören, führt zu einer Aufgabe ihres Selbst. Sie will die alte Haut abstreifen, sich uniformieren, um den anderen zu gleichen. In etwas schlüpfen, was so nicht passt. Es misslingt und endet in ihrer Ächtung.

Der erste Akt ist die ans Licht gezerrte brutale Unterwerfung. In der Erinnerung fragt sie sich, warum nur sein Wille galt, woher diese Ohnmacht, die sie noch heute beschämt. Dieses Sich-Fügen wie in etwas Unvermeidliches als Objekt des Fremden H.

Die Büchse der Pandora ist geöffnet. Der verzweifelte Drang nach Haut ist zu befriedigen, obwohl die innere Flamme sich nicht entfacht. Wird es so bleiben, nur Begehren und sonst nichts?

Großartig geschrieben von Ernaux, die zu Recht gehypt wird. Selten hat ein Text mich mit solcher Wucht in die eigene Jugend zurückkatapultiert. In die Welt der 80er. Mit den Spielregeln der Männer. Die zufrieden nach ihrer Befriedigung herabschauen auf die nackte Scham des ausgelieferten Weiblichen. Sich in der Nachschau auch als Objekt behandelt zu sehen, weil man ein Teil von etwas sein wollte, lässt die Scham wieder aufsteigen.

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