„Prinzessin Alice“ von Irene Dische

„Zeit ist ein Nahrungsmittel wie Wasser und Essen nur sehr begrenzt verfügbar. Seite 72

Was für ein Auftakt! Schon auf Seite acht schlägt Irene Dische das Zelt ihrer literarischen Frechheit auf:

„Sie liebte das Leben mit solcher Inbrunst, dass ich nach einer Zeit ekstatischen Betens ihre Beckenmuskeln rhythmisch zusammenzogen. In jenen Momenten war ihr Stöhnen in allen Räumen zu hören…“

Ein religiöser Orgasmus und damit ist der Ton gesetzt für diesen Roman über eine Frau, die alles war: Urenkelin Queen Victorias, Prinzessin von Battenberg, Mutter des späteren Prinzgemahls Philip und Patientin Sigmund Freuds.

Dische erzählt das Leben der Prinzessin Alice, geboren im Glanz von Windsor Castle, aufgewachsen in den salondurchwehten Räumen des Darmstädter Adels, als eine furiose Groteske über Macht, Sexualität und Wahnsinn. 

Ihre Heldin Alice, schön, fromm und stocktaub, heiratet 1907 den charmanten Andreas Mountbatten, zieht nach Athen und gebiert fünf Kinder, bevor der Gemahl sich dem Glücksspiel und den Damen des Nachtlebens hingibt. Alice bleibt in Paris zurück vertrieben in Armut mit ihrer Heiligkeit und ihren Visionen.

Was Dische daraus macht, ist nicht unbedingt ein historisch-biografischer Roman, sondern auch eine bösartig funkelnde Satire über die Degeneration des Hochadels, über seine inzestuösen Stammbaumverwicklungen und die moralische Schieflage jener, die meinen, Gott und die Gene auf ihrer Seite zu haben. 

Mal sanft und mal mit beißendem Humor schildert Dische die grotesken Rituale der Aristokratie: ihre frivole Bigotterie, ihre Unfähigkeit zur Mitmenschlichkeit und ihre grenzenlose Selbstbezogenheit. Der Adel, so scheint es, liegt mit allem und jedem im Bett. Nur die Schwachsinnigen werden weggesperrt, und Alice fällt diesem System zum Opfer.

Denn als sie, von religiöser Ekstase erfüllt, ihren Liebhaber am Kreuz sucht, erklärt die Wissenschaft sie zur Irren. Freud, der große Diagnostiker des Unbewussten, erkennt in ihren Visionen bloß „sexuelle Frustration“ und lässt, in gruseliger Fortschrittsgläubigkeit, ihre Eierstöcke bestrahlen. 

Dische erzählt das in Form fiktionaler, nebelumwobener Erinnerungen der Ich-Erzählerin Alice, die zwischen Ironie und Schmerz changieren.

Man kennt die historischen Fakten, doch das Buch lockt einen ins Labyrinth der Fiktion, wo sich Wahrheit und Erfindung umarmen wie zwei trunkene Cousins auf einem englischen Gartenfest. Kann es so gewesen sein? 

Vielleicht. 

Aber wichtiger ist, dass es so erzählt wird und damit zum anrührenden Plädoyer für Menschlichkeit inmitten weltlicher Grausamkeit wird.

Dische gelingt es, eine vergessene Prinzessin zum Leben zu erwecken und das mal sanft, mal herrlich deftig und mit frechem Witz. „Böser Doktor“, sagte ich. „Scheißdoktor“. Das erheiterte ihn Seite 74.

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