„La Bella Vita – PNR“ von Sibylle Berg

„Anarchie regelt sich selbst.“ S. 117

Sibylle Berg stellt in PNR: La Bella Vita nicht einfach „die Frage nach einer anderen Welt“.

Sie legt hier keine klassische Dystopie/Utopie vor und verweigert sowohl eine apokalyptische Kulisse als auch realistische Zukunftssimulation. Stattdessen entwirft sie einen literarischen Stresstest, der die Fähigkeit zur Imagination der Leserinnen und Leser prüft.

Mit dem Effekt, dass man sich nicht in eine fertige Zukunft hinein liest, sondern durch sie in einen Möglichkeitsraum denkt, der systematisch irritiert.

Wie weit reicht unsere Vorstellungskraft, wenn die vertrauten Koordinaten wegfallen?

Berg arbeitet mit dem Mittel der Überzeichnung. Ihre utopische Ordnung erscheint in vorstellbaren aber nicht durchkomponierten Fragmenten, Szenen, Paradoxien.

Es gibt Brüche, Widersprüche, Unschärfen geschrieben gegen die psychische Verfügbarkeit der Gegenwart, gegen unser Bedürfnis nach Kontrolle, Kohärenz, und Planbarkeit. Überforderung ist kein Kollateralschaden, sondern Grundprinzip dieser neuen Ordnung.

5 Hacker, junge Nerds aus London wollen die Menschheit retten. Sie beginnen mit einem Bankenhack, der für das notwendige Kapital zum Antrieb der Massen durch gezielte Propaganda sorgt, um im zweiten Schritt einen Bank Run zu provozieren. Damit ist der Kapitalismus vereinfacht ausgedrückt Geschichte.

Einer von Ihnen ist Don. 

Er wird der Chronist und Führer durch die schöne neue Welt nach dem Ende des kapitalistischen Systems. Er kommt nicht aus den oberen Etagen des alten Systems, nicht aus jenem Milieu, das sich die Gegenwart als „Normalität“ schönzureden versteht.

Gerade dieser Randstatus macht ihn zur idealen Figur, um das postkapitalistische Italien zu durchqueren. Er trägt keinen ideologischen Ballast mit sich herum, pflegt weder nostalgische Verklärung der Vorzeit noch moralische Belehrungswut gegenüber der neuen Welt.

So vertraut Berg dem systematisch Entrechteten mehr Urteilskraft zu als den verbrauchten Eliten, die die alte Ordnung hervorgebracht und verwaltet haben. Don steht nicht über der neuen Welt, er beobachtet und dokumentiert sie.

Der eigentliche Kraftkern von La Bella Vita liegt weniger in der Konstruktion des „Danach“ als in der Zergliederung des „Davor“. Berg betreibt Gegenwartskritik mit chirurgischer Präzision.

Es ist unmöglich hier ins Detail zu gehen und das würde auch die Leselust schmälern, deshalb nur einige wenige Happen. 

Wenn sie das Ende der „Angstlust-Medien“ beschreibt, ist das nicht nur Zukunftsfantasie, sondern Diagnose der Gegenwart: eine Medienordnung, die permanent Alarm und Angst produziert, um Aufmerksamkeit zu kapitalisieren.

Formate zur dümmlichen Streaming-Dauerberieselung und Reality-Schrott der die Gehirne verklebt. In der nur schlechte News gute News sind die die Menschen immer depressiver machen.

Berg demontiert bitterböse und lustvoll unsere Gegenwart, in fast allen Lebensbereichen mit schonungslosem Sarkasmus, indem sie sie aus der neuen Ordnung heraus wie ein archaisches Relikt betrachtet. Die vermeintliche Vernunft unserer Existenzform kippt ins Folkloristische.

Wirkungsvoll attackiert sie unsere Glaubenssätze, jene stillen Selbstverständlichkeiten, die sich in unsere Köpfe eingeschrieben haben. Kein Lebenslauf ohne Lücken, unser Optimierungswahn und die Planbarkeit als moralisches Gebot.

Vieles klingt dabei unvermeidlich „nach Sozialismus“.

Arbeit für alle, Gemeinschaftsarbeit für die Gesellschaft, Bewerbung für Urlaube und günstige Wohnungen; eine Art Einheitseinkommen; die Rückkehr der Tauschwirtschaft. Dazu Entwürfe einer weltweiten Produktion, die gerecht verteilt werden soll. Und, sehr altmodisch: Man steht wieder an, man wartet.

Berg spielt offen mit diesen Anklängen an marxistische und sozialistische Vorbilder, ohne sich ihnen zu verschreiben. Ihr Roman tilgt nicht die Geschichte linker Entwürfe, er lässt sie als Referenzrauschen hörbar.

Zentral ist der Gedanke, dass Anarchie nicht Chaos bedeutet, sondern Selbstregulation. Doch diese Selbstregulation bleibt konfliktgeladen. Der Text weigert sich, eine finale Ordnung zu versprechen. Stattdessen legt er Risse offen, wie zum Beispiel sich die freie Berufswahl mit der Einweisung von Verbrechern in „Scheißjobs“ in Einklang bringen läßt oder wie eine Seperation pathologisch Gewaltbereiter ohne Überwachung funktionieren soll. 

Der Roman zwingt dazu, die eigene Zukunftsblindheit zu erkennen, die erstaunliche Unfähigkeit, sich eine Welt jenseits des Kapitalismus vorzustellen, ohne sofort wieder in seinen Kategorien oder anderen zu denken. Und er macht eine enorme Lust auf das Morgen.

Berg stellt dabei eine einfache, radikale Frage:

Warum soll das Leben planbar sein, wenn seine Unplanbarkeit die einzige Konstante ist?

Eine absolute Leseempfehlung.

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