„Die Allee“ von Florentine Anders

„Architektur wird nicht sozialistisch, wenn man es plakativ draufschreibt.“ S. 245

Zwischen Beton und Biografie – Florentine Anders’ „Die Allee“ als literarisch-architektonisches Seelenarchiv der DDR

In „Die Allee“ gelingt Florentine Anders ein bemerkenswerter Spagat: Zwischen den Monumenten sozialistischer Architektur der DDR und den brüchigen Mosaiken der eigenen Familiengeschichte entfaltet sich ein Buch, das ebenso Zeitdokument wie persönliche Spurensuche ist. Was als Rechercheprojekt über eine Straße, eine städtebauliche Vision und einen „Stararchitekten“ beginnt, entwickelt sich zu einer vielschichtigen Reflexion über Macht, Zärtlichkeit und ideologische Verwerfungen – erzählt durch das Prisma der Familie Henselmann.

Anders verwebt zwei Haupt-Erzählstränge: Der eine gehört Isa – einem stillen Kind, das nie ganz willkommen scheint. Sie ist die Mutter der Autorin, und über sie erfahren wir vom Leben im Schatten eines Mannes, den man wohl nur ambivalent zeichnen kann: ihren Vater – Henselmann. 

In dessen Wutanfällen, in seiner Brutalität gegenüber Isa, zeigt sich ein jähzorniger Mensch.

Hermann Henselmann ist kein einfacher Mann. Ein Machtmensch, ein Spieler, einer, der sein Herz an große Ideen hängt – und doch nicht davor zurückschreckt, diese gegen alle politischen Zwänge durchzusetzen. 

Er fördert starke Frauen, liebt sie für ihre Unabhängigkeit, verlangt aber zugleich Unterwerfung von seiner Ehefrau Isi. In diesem inneren Widerspruch nennt er das Mut – vielleicht eine jener tragischen Selbsttäuschungen, die im System notwendig sind, um nicht zu zerbrechen. 

Seine Stimme wiegt schwer, oft im Dienst der Partei besetzt er hohe Ämter. Doch sein Aufbegehren für menschenwürdiges Wohnen und moderne Architektur lässt ihn oft in Ungnade fallen.

Anders schildert dies mit literarischem Gespür, ohne ins Dramatische zu kippen. Ihr Ton ist kühl beobachtend, fast distanziert, was die Emotionen umso schärfer hervorstechen lässt. Es ist keine Abrechnung, sondern ein Versuch des Verstehens. 

Die DDR – sie wird hier nicht als abstrakter Staat, sondern als Familienrealität greifbar: in der Beton-Allee, die verspricht, das neue Leben zu ordnen, und im Wohnzimmer, in dem Gewalt und Ideologie aufeinandertreffen.

Besonders beeindruckend ist, wie Anders den Blick auf die Architektur öffnet. Es geht nicht nur um Fassaden oder die Ästhetik des Sozialistischen Klassizismus – es geht um Menschenbilder, die in Beton gegossen werden sollten. 

Hermann träumt von Schönheit, Weite, Individualität – kämpft gegen die Verflachung durch genormte Wohnsilos, gegen eine Technokratie, die das Menschliche nivelliert. Und doch muss er erkennen, dass auch seine Visionen im System zur Staffage werden können. Trotzdem erschafft er Monumentales.

„Die Allee“ ist somit mehr als nur Familienchronik oder Architekturgeschichte – es ist ein literarischer Versuch, kollektive und private Erinnerung zu verschränken. 

Es geht um ein Land, das groß dachte und klein handelte. Um einen Mann, der sich auflehnt und beugt. Und um eine Tochter, die fragt, wie viel Vergangenheit in der eigenen Geschichte steckt.

Ein klug komponiertes, vielschichtiges Buch, das zeigt: Auch zwischen Plattenbauten und Parteitreue, zwischen Kindheitstrauma und Vaterliebe verläuft die Geschichte – und sie schreibt sich fort, solange wir fragen.

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