„6 aus 49“ von Jaqueline Kornmüller

„Glück braucht keine Sieger.“ S. 133

Es gibt Bücher, die flüstern uns eine Welt ins Ohr, und man möchte sich beinahe entschuldigen, wenn man sie ausgelesen hat, weil man spürt, dass man etwas Kostbares berührt hat. Jaqueline Kornmüllers 6 aus 49 gehört zu dieser seltenen Sorte. Es ist die Geschichte einer Frau, die ihr Leben mit einer Mischung aus schicksalsergebener Leichtigkeit und trotzigem Gestaltungswillen führt – und die dabei dem Glück immer wieder in die Arme läuft.

Im Zentrum steht Lina, die Großmutter, Lottospielerin, Glückskind – und doch nicht in der Liebe. Dort, so lässt die Erzählerin ahnen, ist Vergebung die härtere Währung als ein Sechser im Lotto. Aber im Kleinen, Alltäglichen? Da war Lina gesegnet. Sie, die aus ärmsten Verhältnissen kam, die mit 13 ihre erste Stellung antrat, die sich mit wachen Augen durch ein Jahrhundert bewegte.

Die Autorin – oder vielmehr die Enkelin, die uns diese Geschichte in poetischer Unmittelbarkeit erzählt – schenkt uns Erinnerungsbilder, die in warmer Farbe leuchten: das Haus Amalie in Garmisch-Partenkirchen, mit Kohlenkellern und Waschküchen, in denen sich das Leben in seiner ganzen Schwere und zugleich seiner Behaglichkeit verdichtete. Hier war Lina in ihrem Element. Die Hotellerie: Kommen und Gehen, Empfangenwerden und Abschiednehmen, das stille Ritual, Wünsche zu erfüllen.

Doch Kornmüller erzählt kein bloßes Familienidyll. Die Geschichte ist durchwirkt vom Zeitgeschehen. Die 1930er Jahre, als in Garmisch die braunen Schatten länger werden. Antijüdische Schilder tauchen auf, bis irgendwann die Menschen, auf die sie verweisen, verschwinden. Hier greift die Autorin zu einem starken Kunstgriff: Sie lässt das Gewissen selbst auftreten – als personifizierte Stimme, die mahnt und entlarvt. Es ist ihr Instrument, um Garmisch nicht ungeschoren davonkommen zu lassen. Denn, so ihre unmissverständliche Botschaft, rechter Bodensatz hat dort nie ganz aufgehört zu gären. Die NPD, die Republikaner, heute die AfD – alle sitzen, so schreibt sie, „auf denselben Stühlen“. Das Gewissen aber, „haben sie rausgeschmissen“. Ein Satz wie ein Schlag.

Und doch ist 6 aus 49 kein politischer Essay, sondern eine poetische Familienchronik. Kornmüller zeichnet Lina als Unternehmerin und Frau – tatkräftig, lebensklug, dem Luxus nicht abgeneigt, aber verwurzelt in dem, was trägt. Eine Figur, die man nicht so schnell vergisst: sympathisch, nahbar, und zugleich ein wenig irrlichternd, als habe sie Zugänge zu Räumen, die für andere längst verriegelt sind.

Die Sprache der Enkelin ist voller Charme, durchsetzt mit eigens geschaffenen Wortschöpfungen: Aus Garmisch-Partenkirchen wird „nur Bindestrich“, ein Verehrer heißt schlicht „Schwärmer“, ein anderer „Unternehmerkutscher“, ein Halsabschneider verwandelt sich in den „Gondoliere“. Solche Erfindungen sind mehr als Zierde – sie sind ein zarter Widerstand gegen die Schwere der Geschichte.

Und dann dieser Ton: warm, fast beschwörend, getragen von Wiederholungen, die wie Wellen an den Strand schlagen. Die Erinnerungen wirken nicht museal, sondern atmend, gegenwärtig – Kindheitsbilder, in denen ein Kohlenkeller oder eine Blaubeerernte zu Zauberkammern werden. Etwas an Lina bleibt immer Kind. Ein „altes Kind“, wie die Erzählerin schreibt, „von ansteckender Leichtigkeit getragen“.

Am Ende wird die Sprache selbst durchscheinend, als wollte sie nicht mehr beschreiben, sondern nur noch halten, festhalten: „Eine letzte Blüte in der Hand, zart und nah am Herzen geschrieben.“ Selten hat der Tod so leise gesprochen.

Ein stilles, doch kraftvolles Buch über das unscheinbare Glück, die Zärtlichkeit der Erinnerung – und Schuld die nie spurlos verschwindet.

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