„Rendezvous der Träumer, Narren und Verliebten“ von Eberhard Hilscher

„Wir müssen Bestseller und viel verkaufsfähige Minderwertigkeit drucken, um uns ab und an meisterhafte leisten zu können.“ Seite 197

Rendezvous der Träumer, Narren und Verliebten

Eine Reise durch 30 Jahre Imagination – und ein spätes Heimspiel für einen literarischen Unangepassten

Kaum ein Schriftsteller der DDR blieb so eigensinnig zwischen den Stühlen wie Eberhard Hilscher (1927 – 2005). Weder wollte er sich dem sozialistischen Realismus beugen, noch tanzte er vor westdeutschen Feuilletons den erwarteten Dissidenten‐Walzer. Genau diese souveräne Außenseiter-Haltung funkelte in seinem Prosanachlass, der jahrzehntelang in der Berliner Staatsbibliothek schlummerte und nun – mit Nachwort von Volker Oesterreich – als Erzählband „Rendezvous der Träumer, Narren und Verliebten“ beim Flur Verlag erschienen ist.   

Hier eine Auswahl an Rendezvous aus dem Erzählband von Hilscher: 

Das Alter in Aufwärtsspiralen: Dagobert Schaetzel

Gleich die erste Geschichte stößt den Leser in eine spiegelnde Traumkapsel: Dagobert Schaetzel, 70, meinungsstarker Methusalem, wird von „einer ganzen Armee Bakterien“ im Gedärm attackiert, nur um sich ballongleich aus seinem Siechtum zu lösen. Die Uhr dreht rückwärts; sein Spiegelbild wirft neues Haar, der Held schrumpft vom Prinzen zum Bauern. Wo Fitzgeralds Benjamin Button gemächlich verblüht, treibt Hilscher ein groteskes Karussell der Rollen und Selbstbilder. Die Pointe: Jugend ist hier keine Verheißung, sondern ein komischer Schleudergang, der das Ego von der Bühnenrampe in den Chorgraben fegt.

„Gluka, bitte melden!“ – Sci-Fi mit Stethoskop

Wer bei Hilscher „Science Fiction“ erwartet, bekommt Seelen-Forensik: Gluka – süße Glukose? Neuro-Virus? – funkt sich in ein menschliches Gehirn, lauscht links laut, rechts leise, sammelt Daten über das Zentralorgan samt Beipackzettel namens „Seele“. Das klingt nach Pynchon, riecht zugleich nach staatlichem Überwachungsprotokoll. Hilscher verknüpft Biochemie, Kybernetik und Metaphysik, um die alte Frage „Wer spricht in mir?“ in einen satirischen REM-Schlaf zu schicken.

Mauerschatten und Mythenbrecher: Ludmilla gegen Olberich

Ludmilla, frühbegabte Grenzgängerin, spuckt Grenzern ins Gesicht, landet in der Nervenklinik, führt vor imaginiertem Tribunal Prozess gegen die ganze piefige Republik. Hilschers „Olberich“ – kaum verhüllt an DDR‐Politiker Ulbricht gemahnend – ist Karikatur und Menetekel zugleich. 

Die Geschichte liest sich wie ein groteskes Lehrstück über die Psychologie der Staatsmacht – und deren Zerbrechlichkeit.

Ruhm & Reißer: „Superstar“

Die brillanteste Selbstbespiegelung liefert wohl die Satire auf den Literaturbetrieb. Der Dichter Ulrich Hergt will kein knackiges Pseudonym, kein feuilletonistisches Fast‐Food. Sein Verleger aber doziert: „Wir müssen verkaufsfähige Minderwertigkeit drucken, um uns ab und an Meisterhafte leisten zu können.“ Hergts Gegenfrage – „Was, wenn wir das Publikum an köstliche Wortmenüs gewöhnten?“ – brandmarkt Hilschers eigene Verlagskarriere. Hier wird das Spannungsfeld „Kunst oder Konsum?“ zum kabarettistischen Fechtsport.

Hilschers Schreibweise ist geprägt von einem ständigen Wechsel polyphoner Register: Er lässt mythologische Figuren wie Achilles, Thor oder Re auf den Jargon der DDR prallen, wodurch eine eigentümliche Spannung entsteht. Sprachspielerischer Nonsens – trifft auf essayistische Passagen die den belesenen Universalgelehrten verraten, der sowohl Thomas Mann zu schätzen wusste als auch ein waches Interesse für die aktuellen Entwicklungen in den Neurowissenschaften zeigte.

Diese besondere Mischung aus surrealer Phantastik, politischer Satire und poetologischer Selbstreflexion entzog sich bewusst jeder klaren Zuordnung. Gerade deshalb blieben die Texte lange im Verborgenen: Zwar entstanden die ersten Texte ab dem Jahr 1961, doch gedruckt werden konnten sie erst 2025 – mehr als dreißig Jahre später.

Warum das heute funkelt?

Was Hilschers Werk heute so aktuell erscheinen lässt, ist seine verblüffende Weitsicht: Debatten um künstliche Intelligenz, die Furcht vor autoritären Regimen und der Kult um Prominenz wirken in seinen Texten wie prophetisch vorweggenommen. Sein Humor fungiert dabei als Mittel des Widerstands – indem er Ideologien in traumartige Szenarien überführt, entzieht er ihnen ihre ideologische Schwere. Und nicht zuletzt lebt seine Sprache selbst: Die Sätze tanzen, blitzen auf, erlauben sich kokette Ausschweifungen. Das Lesen gleicht dem Lauschen eines Conférenciers, der im Zirkuszelt der Geschichte brilliert.

Fazit

Dieser Band ist keine späte Gedenkplatte, sondern ein Monsterbrillant aus dem Tiefsee‐Schatz der deutschsprachigen Literatur: 15 Geschichten, die zeigen, wie utopisch, verspielt und hellsichtig Prosa aus der DDR sein konnte, wenn sie sich weder den Dogmen des Ostens noch den Marktgesetzen des Westens beugte. Wer geistige Trampoline, doppelte Böden und sarkastische Seitenhiebe liebt, wird bei Hilscher zum Wiederholungstäter – immer mit einem Kichern im Hals und einem Fragezeichen im Herzen.

Unbedingte Lektüreempfehlung – denn gute Literatur ist ein Rendezvous, das man nicht versäumen darf.

🐸 Mehr Rezensionen: , ,