„Mit den Jahren verschwand viel Menschliches aus dem Menschen und allerlei Tierisches trat hinzu.“ Seite 36
Christine Wunnickes Wachs ist entgegen schwerer, düsterer Historien-Brocken ein schmaler Roman, der sich dennoch gewichtig anfühlt.
Er entführt die Leserinnen und Leser in ein Paris der Extreme: Hitze, Gestank, Tod – die Stadt scheint im 18. Jahrhundert im Chaos zu versinken, während die Revolution Menschenleben wie Herbstlaub hinwegfegt.
Im Zentrum der Geschichte stehen Marie Biberon und Madeleine Bassaporte.
„Marie rannte durchs Leben, Madeleine wurzelte darin.“ S.168
Marie ist ein Mädchen mit einer Obsession: Sie will wissen, was innen liegt und dafür zerlegt sie den menschlichen Körper in seine Einzelteile.
Schon früh zeigt sich Maries eigenwillige Bestimmung – ihr Wunsch, Leichen zu sezieren, eckt an und verstört. Doch nach ihrem 14. Geburtstag erhält sie schließlich ihre erste Leiche, und der Weg ihres Lebens ist damit vorgezeichnet: sie will der beste Anatom von Paris werden.
Parallel zu Maries Geschichte wird die der Blumenmalerin Madeleine Basseporte erzählt, die Marie als junges Mädchen unter ihre Fittiche nimmt. Madeleine, selbst eine zurückgezogene, unabhängige Frau, wird von Maries vereinnahmender Energie erfasst. Ihre Beziehung – zart, bizarr und gegen jede Konvention – entwickelt sich im Schatten der kirchlichen und gesellschaftlichen Erwartungen. Ihre heimliche Liebe wird zur leisen Rebellion gegen die Zeit, die Frauen keinerlei Spielraum für Selbstverwirklichung lässt.
Wunnicke zeichnet ein Bild von Wachs: formbar und weich aber auch hart, spröde, leicht entflammbar – und so sind auch ihre Protagonistinnen.
Der Stil des Romans ist geprägt von einem feinen Irrwitz: Historische Persönlichkeiten werden mit ihren Eitelkeiten und Ängsten entblößt. Da flieht ein Beamter auf das Abort, um seinen Aufgaben zu entkommen, da wird politische Unsicherheit zum täglichen Überlebenskampf: Welche Meinung darf man heute vertreten, ohne selbst das Fallbeil zu küssen?
Besonders beeindruckend ist die atmosphärische Dichte: Wunnicke schildert die Zeit der Revolution so, dass man die Hitze, den Verfall und die Angst körperlich spüren kann. Dabei spart sie die Unterdrückung der Frauen nicht aus – eine stille, aber kraftvolle Anklage, die sich auch durch die Schicksale von Marie und Madeleine zieht.
Die FAZ sagte über Wachs zu Recht, dass dieser scharfsinnige, eigenwillige Roman seine Leserschaft nicht langweilen wird.
Christine Wunnicke schafft mit Wachs ein verstörendes, kunstvoll komponiertes Bild von einer politisch unruhigen Zeit und ruhelosem Forschungsgeist, den sie den Frauen überantwortete, was erfunden aber gut erdacht ist.