Lebenslinien zwischen Osterstieg und Westerstieg
„Warum es mich gibt: … Weil Schafe leise sterben“ Seite 92
Die Innereien einer Familie durchwühlt von Alma, der Urenkelin, die die Einzelteile zusammenfügt.
Ein Generationenroman, ja, aber keine Chronik. Keine stringente Linie, sondern ein Mosaik, das sich anhand der Frauen erzählt.
Die Männer treten nur auf, wenn sie gebraucht werden als Liebhaber, Ehemänner, Väter. Und sie verschwinden wieder, sobald die nächste weibliche Nachfahrin geboren ist.
Ein Roman wie eine löchrige Patchworkdecke. Nicht nur die einzelnen Versatzstücke bewegen dien Lesenden, die große Stärke ist das Ungesagte. Die Lücken sind kein Mangel, sondern poetischer Raum. Was unausgesprochen bleibt, spricht im Kopf des Lesenden weiter. Das Schweigen wird zum Resonanzraum, in dem sich ein fortlaufendes Selbstgespräch entfaltet.
Die Wirklichkeit dieser Familiengeschichte ist harte Arbeit, Mangel, Krieg, eine Kindheit ohne Schule.
Doch die Autorin lässt sie nicht stumpf werden. Wo Sprache versagt, entsteht Imagination, wo keine Erklärung möglich ist, tritt Magie an ihre Stelle. „Sie stellt sich bis zu den Knien in einen Topf, den größten, den sie besitzt, und bedeckt ihre Füße und Unterschenkel mit Anzuchterde für tropische Zimmerpflanzen. Dann richtet sie sich auf und beginnt zu wurzeln.“ S. 226
So öffnet sich ein poetisches Gegenlicht, das die Schwere erträglich macht.
Stilistisch wagt der Roman Brüche, Dopplungen, Miniaturen und Metamorphosen.
Listen werden zu literarischen Kunstgriffen Beispiel der Inhalt der Hebammentasche: Instrumente säuberlich aufgezählt von A wie Aortenklemme bis Z wie Zuckerampullen bis zu den „Synonymen für Früher:
„Im Norden,
Im Krieg,
Im Dorf,
Daheim“.
Diese Aufzählungen wirken wie Inventuren des Lebens und zugleich wie Zauberformeln.
Besonders eindringlich sind die Visionen der Urgroßmutter Henrike. Sie verweigert einem ungeborenen Kind das Leben und wird heimgesucht von kryptischen Bildern, die sich später wie Prophezeiungen erfüllen. Die Tragik dieser Erzählung liegt in der Unausweichlichkeit. Jede Generation will es anders machen und doch kehrt sie zurück zu den alten Mustern. Aus der Lieblosigkeit der Mütter wächst Rebellion, aber am Ende landet sie wieder in der Wiederholung.
Manchmal sind diese Frauen radikal in ihren Gedanken:
„… und stellt sich vor, wie sie das Kind, dass im Nebenzimmer soeben schreiend erwacht, aus dem Bettchen hebt und auf die Straße fallen lässt. Sie denkt kurz über die Bedeutung des Wortes Kopfsteinpflaster nach. Erst Kopf, dann Stein, dann Pflaster.“ (S. 160)
Es sind Sätze wie dieser, die verstören und gerade dadurch aufrütteln.
Der Roman kreist um Leben und Tod, auch sprachlich. Anna und Nora, ein Palindrom und ein Anagramm. Zwei Namen, die zeigen, dass alles eine Frage der Perspektive ist, von hinten nach vorn, neu geordnet, aber immer verbunden.
Und warum birgt ein Schaf ein Geheimnis? „Schweine schreien, aber Schafe sterben still.“ Dieses Bild zieht sich wie ein leiser Schmerz durch die Generationen, so eindringlich wie die Geschichte selbst.
Ein großartiges Buch! Es ist ungewöhnlich, experimentell, und dennoch fein lesbar. Eine neue Stimme mit einem eigenen Sound, poetisch und mutig.
Nur eine Fußnote bleibt: Benedikt. So stark in Szene gesetzt, dann plötzlich verschwunden. Da fehlt ein Glied in der Kette – ein Schweigen, das diesmal nicht gefüllt wurde.



[…] „Dieser Band ist keine späte Gedenkplatte, sondern ein Monsterbrillant aus dem Tiefsee‐Schatz der deutschsprachigen Literatur: 15 Geschichten, die zeigen,…