„Alles war leicht und frei, unwirklich wie ein kurzes Versprechen, eine Wette auf’s reinste Glück“ Seite 61
Ein Land, benannt nach seinen Töchtern: Kirgistan, wörtlich „40 Mädchen“ – ein poetisches Vermächtnis inmitten politischer wie gesellschaftlicher Umbrüche. Seit seiner Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 ringt das zentralasiatische Land an der Seidenstraße mit sich selbst – jung, arm, von Ressourcensuchern durchkämmt, von der eigenen Bevölkerung häufig verlassen. Die Hoffnung ist brüchig, das Heimweh allgegenwärtig – eine Heimat zwischen Aufbruch und Schmerz.
In dieses gesellschaftliche Vakuum fällt eine intime, fast beiläufige Begegnung zweier Frauen: Marie, Europäerin, kulturinteressiert, zufällig anwesend bei einem Modeevent in der kirgisischen Hauptstadt, trifft auf Pia. Eine Einladung, ein Besuch, ein Heim. Und dann: Stille. Eine Stille, die nicht friedlich, sondern gespenstisch ist. Kinder sitzen da wie Gepäckstücke, regungslos, unberührt – als hätte man sie vergessen, ohne sie jemals wirklich wahrgenommen zu haben.
Doch Pia hat dort begonnen, was man nur mit größter Vorsicht ein Wunder nennen darf: Sie berührt die Kinder – wörtlich, achtsam, liebevoll. Und etwas geschieht. Die Seelen beginnen, sich zu regen. Ein zaghaftes Aufleben, das sich nicht mit pädagogischen Begriffen fassen lässt, sondern mit etwas Grundlegendem: Zuwendung.
Marie, erschüttert von der Begegnung, ist nicht länger Beobachterin. Ihr Entsetzen verwandelt sich in Handlung – in ein Projekt, das nicht als Hilfe gedacht ist, sondern als Geste der Würde. Nähe als Widerstand. Berührung als Akt der Revolte.
„40 Mädchen“ ist ein literarischer Hybrid – und genau darin liegt seine Kraft. Der Text ist vielsprachig, fragmentarisch, poetisch durchsetzt – eine Form, die sich dem Inhalt kongenial fügt. Hier wird nicht linear erzählt, weil sich auch die Wirklichkeit nicht linear begreifen lässt. Die Autorin wagt viel: Sprachlich tänzelt sie zwischen Volkslied und Verstörung, zwischen poetischem Leuchten und schmerzhaftem Verstummen. Wortschöpfungen, Mehrsprachigkeit, innere Monologe und dokumentarische Miniaturen bilden ein Geflecht, das dem Leser einiges abverlangt – und ihn dafür umso mehr belohnt.
Vor allem aber gelingt ihr, was nur wenigen gelingt: Die Autorin urteilt nicht. Sie zeigt. Und durch dieses Zeigen, durch das Ausleuchten der Lücken und Leerstellen, entsteht eine literarische Wahrheit, die tiefer geht als jeder moralische Appell.
Die hinzugefügten Episoden – einzelne Biografien, „Systemwaisen“, die ihre Stimmen zurückerobern – öffnen den Blick auf das strukturelle Versagen ganzer Systeme. Diese Kinder sind nicht Opfer einzelner Umstände, sondern eines Gesellschaftsgefüges, das Verantwortung auslagert und Menschlichkeit in Anträgen vergräbt. Die Autorin macht die Leser:innen zu Zeug:innen, aber auch zu Mitfühlenden, ohne sie je zu manipulieren.
Die Ungeheuerlichkeit liegt nicht in Grausamkeit – sondern in der Gleichgültigkeit.
Diese Kinder sterben nicht an Gewalt, sondern am Entzug von Nähe. Kein Schrei. Kein Blut. Nur das Verstummen. Und das macht dieses Buch so erschütternd: Es zeigt eine Welt, in der nicht das Böse herrscht – sondern das Nichts.
Fazit
„40 Mädchen“ ist kein Buch, das man liest. Es ist ein Buch, das man durchlebt – tastend, irritiert, erschüttert und zuletzt: bewegt.
Die Leseempfehlung ergibt sich nicht aus einem wohlmeinenden Pflichtgefühl gegenüber dem Thema, sondern aus der literarischen Brillanz, mit der die Autorin Unfassbares in Sprache fasst. Sie schenkt den Kindern, die nichts hatten, das Wertvollste: Aufmerksamkeit. Und uns Leser:innen das Gefühl, dass Literatur doch verändern kann – leise, aber unwiderruflich.