„Ich wollte ein Leben, das zu mir passte. Ich wollte nicht passend gemacht werden. Ich wollte ein Abenteuer.“ Seite 46
Was für ein Buch und das sage ich nicht, weil es um die Boomer-Generation geht und die Autorin Susanne Matthiessen mein Jahrgang ist. Es ist einfach großartig, wild und ungezähmt.
Zum Inhalt:
Susanne hat die Aufnahmeprüfung für einen Ausbildungsplatz beim NDR versemmelt und bekommt eine letzte Chance. Diese besteht darin in Berlin eine Story über die Rassehundeschau zu machen.
Doch der Ausflug nach Berlin endet auf der sprichwörtlichen „Schiefen Bahn“.
Erst genießt sie das erste Tränengas ihres Lebens, dann macht sie Bekanntschaft mit der feministischen Hausbesetzerszene Kreuzbergs und plündert einen Supermarkt.
1. Mai 1987 im Kreuzberger Bemudadreieck. Hier bleibt kein Stein auf dem anderen und das verändert auch Susanne für immer.
Sie ist auf der Insel der Gefährlichen angekommen und trifft eine Entscheidung. Sie will in Kreuzberg bleiben. Ihr Glück liegt in Berlin.
Knapp vierzig Jahre später ist sie immer noch da. Die Protestkultur hat sich in Kreuzberg trotz 5-Sterne Hotels ebenso gehalten wie das Elend, es ist nur voller und bunter geworden.
Woran merkt man, dass man alt wird?
Das Meckern nimmt überhand. Was früher noch: – Ist mir egal – hieß wird jetzt zum Blutdruckbeschleuniger. Der Protagonistin Susanne geht es da nicht anders.
Die Revoluzzerin von damals ergeht sich in Klagen über Kreuzberger Mietwucher und Behördenwahnsinn. Berlin ist überbürokratisiert und nichts läuft. PA abgelaufen, Führerschein ungültig, Wohngeldstelle dicht… nicht mal der Tod ist eine Alternative, denn auch für das Ausfertigen der Sterbeurkunde ist eine Behörde zuständig.
„Stirb nicht in Berlin! Das ist Stress pur.“ Seite 87
Als die Meckerei beginnt mir auf die Nerven zu gehen und ich schon meine, das der Klappentext sich mal wieder mehr Freiheiten genommen hat als das Buch hergibt, da kommt die Autorin richtig in Fahrt und nur zu gern springt man auf.
Da ist diese herrliche Liebeserklärung am Kreuzberg.
Das Kreuzberg das die BURG beheimatet, ein Wohnhaus nur für Frauen.
In diesem lebt Susanne mit einem Balkon-Logenplatz auf ihren Kiez. Aufgeführt wird jeden Tag das gleiche Stück.
Wie eine Voyerin betrachte Susanne die Frühaufsteher, Kindertransporteure, unsichere Touristen und schnatternde Frauen neben aufgedunsenen Saufkumpanen. Jeder darf hier sein.
Scharfzüngig ist dieses Buch geschrieben und es legt den Finger trotz schwarzem Humor tief in die Wunden unserer Zeit. Altersarmut bei Frauen, Gewalt gegen Frauen, Staatsversagen und immer noch § 218.
Susanne Matthiessen nimmt die Themen schonungslos aufs Korn. Macht sie erlebbar anhand der Schicksale der Frauen in der BURG.
Leben mit dem Mindestlohn. Nicht aufhören können zu arbeiten, weil die Rente nicht ausreicht. Wohin mit dem dementen Vater, wenn es keinen Heimplatz gibt und alles immer teurer wird. Die Frauen leben fast alle am Limit.
Doch es ist kein Buch, dass vom Aufgeben handelt. Vielmehr ist es ein starkes Buch über starke Frauen, die trotz Hüftbeschwerden und grauer Haare noch den Funken des Feminismus in sich tragen. Geschrieben mit einem Augenzwinkern und so liebevoll ausgearbeiteten Charakteren, dass man sogar die bunten Holzketten an den Hälsen ihrer Trägerinnen klappern hört.
Lesen! Unbedingt!