„Kalk“ von Dirk Bernemann

„In Deutschland sagen wir „So“, dann atmen wir tief ein und der Scheiß geht weiter“. 

So! Wer kennt diesen Opener nicht? Vorwiegend begegnet er einem im Krankenhaus, wenn eine Pflegekraft meint, So! wir müssten jetzt Blut abnehmen. 

Der Patient weiß daraufhin, dass die Pflegekraft die Spritze in der Hand hält und ihm der Part des Gepeinigten zufällt.

Kalk hört dieses So! schon in frühester Kindheit von seinem Vater. Damit beginnt und beendet dieser seine Kommunikation. Er selbst ist nur das Kind, So!

Kalk ist nun 55 und einsam. Sein Leben hat keine bestimmte Richtung. Als Verkäufer in einem Elektrogroß- und Einzelhandel hat er sich über den Status seiner Eltern in den Mittelstand erhoben. Doch sein Leben verläuft nach einer Trennung von seiner Freundin wieder ereignislos und grau.

Beim Einkauf im Supermarkt kauft er eine tiefgekühlte Forelle, weil diese ihn anglotzt. 

Was für ein Tageshighlight. 

„Life is short, eat dessert first“ Seite 9

Ansonsten spielt der in seiner Freizeit Tischtennis, wobei ich ihm auch Modellbau zugetraut hätte. Dieses Hobby alter, vor sich hinmüffelnder, weißer Männer. Doch Tischtennis trifft es wohl auch.

Kalk hat Urlaub und beschließt, diesen am Ort seiner Kindheit zu verbringen. Er gönnt sich ein Hotelzimmer an der niederländischen Küste. Auf die Bewohner dieser Zimmer hat seine Mutter immer sehnsüchtig geschaut. Sein Vater dagegen hatte diese Leute verachtet. Das Leben muss eine Qual sein, sonst stimmt damit etwas nicht.

Denn die Familie Kalk war eine Arbeiterfamilie, die aufgrund fehlender finanzieller Mittel ihre Urlaube auf einem Campingplatz in Holland verbrachte.

Urlaub war für den kleinen Kalk das Meer, in der Sonne braten und das Essen einer fricandel speciaal. Einer fettigen Fleischrolle mit Zwiebeln und Ketchup.

Am Urlaubsort seiner Kindheit angekommen, fragt Kalk sich, weshalb er nicht irgendwo in der Welt herumreist. Warum hier? Der Gedanke bereitet ihm Unbehagen. In welchen Denkfesseln verharrt er, wenn der Grund für die Wahl des Urlaubsortes eine fettige Friteusennahrung ist, die ihm das kindliche Wohlgefühl eines 6-jährigen bescheren soll? 

Kalk der Antiheld, dessen Mittelmäßigkeit so ermüdend ist wie seine Kleiderwahl. Selbstsicherheit zeigt er nur im Beruf. Sobald er niemandem eine Waschmaschine andrehen kann, verstummt er, was ihm natürlich auch beim weiblichen Geschlecht mies in die Karten spielt.

Kalk ist Enttäuschungen gewöhnt. Doch diese höhlen ihn aus, wie ein ständig fallender Wassertropfen, der auf einen Kalksandstein trifft.

Ganz plötzlich wird er zum Helden. Der altruistische Retter Kalk erhebt sich aus seiner Durchschnittlichkeit. Feiert sich selbst und will gefeiert werden. 

Doch dieser so herbeiphantasierte Wunsch etwas zu bedeuten, verzieht sich wie der Rauch einer Zigarette und in seiner fehlgeleiteten Selbstüberschätzung begeht er einen unverzeihlichen Fehler. 

Der Schriftsteller Dirk Bernemann liefert uns hier einen sehr scharfzüngigen und zynischen Roman über Mittelmaß, Einsamkeit und moderne Männlichkeitsbilder.

Für mich steigt Kalk nicht im Rahmen der Handlung vom Antihelden zum Helden auf. Er bleibt was er von Beginn an war, ein Mann in der Midlife-Crisis. Kalk will sich vielleicht selbst finden, doch in letzter Konsequenz bleibt nur seine schnöde Auseinandersetzung der Vergänglichkeit seines Lebens. 

„Altern ist eine Nebenhandlung menschlicher Existenz“. Seite 171

Zwar tut Kalk Gutes, doch seine egozentrischen Züge und die düstere, nihilistische Weltanschauung machen es den Lesenden schwer, Empathie für ihn zu empfinden., Auch in seiner größten Stunde bleibt er ein Menschenfeind.

Trotz der düsteren Stimmung gelingt es Bernemann, den Leser mitzunehmen, denn seinem Sprachwitz ist man kaum gewachsen. Ich habe gelungen noch nie eine so abtörnende Szene einer körperlichen Vereinigung gelesen.

(Für den Zusammenhang = Die künstliche erotische Wäsche am Körper von Melanie hat eine gegenteilige Wirkung auf Kalk, denn sie wirkt auf ihn wie warmer, weicher Käse.

„ Aber Kalk greift rein in diesen Käse ins Gewebe in das Angebot, dass sich vor seinen Augen auf der Matratze wälzt.“ Seite 121

Diese allgegenwärtige Jonglage mit der Sprache erhält den Spaß am Lesen, selbst wenn man den Innenansichten des Kalk wenig abgewinnen kann. 

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