„Sie sei gewillt, der Zeit, die ihr bliebe, das Maximum an Kreativität, Energie, Genuss und Liebe abzutrotzen, so weit es möglich sei.“
Ursel Schmid schickt ihre Leser:innen mit Im Dickicht der Erinnerungen auf eine leise, doch tiefgründige Reise durch Trauer, Selbsttäuschung und das zähe Ringen um ein wahrhaftiges Bild eines Menschen.
Ausgangspunkt ist eine Bonner Kneipe, Schauplatz der ersten Szene, in der die Journalistin Dora Novak, schwer gezeichnet vom plötzlichen Suizid ihrer Schulfreundin Louise – genannt Loulou – einem Fremden begegnet. Loulou, einst schillernd und unnahbar, war mehr als eine Freundin: eine Projektionsfläche für Sehnsucht, Glanz und Geheimnis.
Der Fremde, ein Journalist namens Harry, behauptet, sie ebenfalls gekannt – ja, verehrt – zu haben.
Aus dieser zufälligen Begegnung entwickelt sich eine fragile Allianz, getragen von Misstrauen, aber auch einer geteilten Ahnung: Die Wahrheit über Loulou liegt irgendwo zwischen den Versionen, die sie hinterlassen hat – und den Erinnerungen, die an ihr zerren.
Die Kapitelüberschriften – bekannte Songs wie With a Little Help from My Friends – liefern dabei mehr als nur Soundtrack-Atmosphäre: Sie sind Kommentare, Brücken, manchmal ironische Brechung. Ein musikalisches Subtextsystem, das den emotionalen Verlauf der Geschichte begleitet und vertieft.
Unübersehbar ist die Nähe zu anderen literarischen Stimmen der Erinnerungsliteratur: Norwegian Wood von Murakami oder Sigrid Nunez’ The Friend kommen einem in den Sinn. Auch dort: Verlust, Freundschaft, Schuld, Erinnerung. Doch während jene Werke oft in melancholischer Dichte versinken, bleibt Schmid luftiger, zugänglicher, fast optimistisch.
Dora begibt sich nicht nur in Loulous Vergangenheit – sie begibt sich auch in ihre eigene. Ihre Reise nach Italien, an Loulous letzten Aufenthaltsort, wird zur introspektiven Pilgerfahrt, in der auch die eigene Verletzlichkeit, das eigene Überleben zur Sprache kommt.
Die Landschaften – von Flensburgs Küsten bis zu italienischen Hügeln – sind liebevoll gezeichnet und verleihen dem Roman eine ruhige visuelle Schönheit.
Zwischen windgepeitschter See und toskanischem Licht verdichtet sich das Atmosphärische zu einem Raum der Wandlung.
Am Ende ist Im Dickicht der Erinnerungen keine literarische Revolution, aber ein ehrliches, feinfühliges Stück Gegenwartsliteratur.
Schmid interessiert sich nicht für große Gesten, sondern für stille Prozesse: Wie trauert man um jemanden, der einem immer ein Rätsel blieb?
Wie erkennt man das eigene Spiegelbild im zerbrochenen Bild des anderen? Und kann aus Trauer Zärtlichkeit entstehen – auch zwischen zwei Fremden, die sich im Dickicht begegnen?
[…] „Dieser Band ist keine späte Gedenkplatte, sondern ein Monsterbrillant aus dem Tiefsee‐Schatz der deutschsprachigen Literatur: 15 Geschichten, die zeigen,…