„Es ist schwer, mit Gefühlen umzugehen, die in Tsunamistärke durch den Körper rollen.“ Seite 273
Was für uns Lesende als irrwitziges Trainingslager einer endorphinsüchtigen Radfahrerin beginnt, verwandelt sich nach einem etwas hügeligen Einstieg in den Roman, in eine berührende Studie über das Neu-Erfinden in der Lebensmitte. Mieze Medusa, die Meisterin des rhythmischen Erzählens, berichtet von Melanie, einer Frau, die nicht nur einen Mann, sondern vor allem ihre Rolle als Mutter verloren hat und sich selbst irgendwo dazwischen.
Melanie, attraktiv, sportlich, zunächst scheinbar mitten im Leben, gerät früh in die Umlaufbahn des smarten Vincent. Er bucht Skistunden für seine Kinder und nimmt wenig später die Lehrerin statt der Kinder mit.
Dass er Frau und Nachwuchs kurzerhand verlässt, scheint Melanie damals so wenig zu irritieren wie seine Weigerung, sie öffentlich zu seiner Partnerin zu machen. Sie genießt die Verführungskraft des Jetset-Lebens, ohne zu merken, dass sie selbst darin nur Nebenfigur ist.
All dies erzählt Medusa in Rückblenden, denn in der Gegenwart hat die Wirklichkeit bereits zurückgeschlagen.
Melanie lebt in Wien, jobbt in einem kleinen Hotel, freundet sich mit Sam und Irene an und versucht, den Takt eines Alltags zu finden, der keinen glamourösen Glanz mehr hat. Er hat jedoch etwas viel Schmerzhafteres: Stille.
Denn Melanie hat eine Tochter, Adele. Doch Adele lebt am anderen Ende der Welt, in Neuseeland, beim Vater. Nicht geplant, nicht gewollt. Vier Jahre ohne ein einziges Treffen. Eine eingetretene Volljährigkeit, die den Kontakt nicht leichter macht. Und ein Kontostand, der jede Reise ins Unmögliche verschiebt.
Was folgt, ist ein geradezu physisch spürbarer Lösungsprozess. Medusa zeigt mit sehr präzise, wie Melanie aus einer Sorglosigkeit in die soziale Unsicherheit fällt, aber vor allem: wie eine Mutter zur Mutter ohne Aufgabe wird. Es ist ein Thema, über das Literatur selten spricht: die Entrissenheit der Mutterschaft, wenn nicht Tod oder Gewalt, sondern Lebensläufe und ökonomische Grenzen greifen.
Zwischen den Zeilen liegt Melanies Traurigkeit wie ein Dauerton. Sie hört die Lieder ihrer Tochter. Sie checkt das Internet im Sekundentakt nach Fotos, nach Spuren, nach Lebenszeichen. Sie wärmt sich an Erinnerungen, als wären sie das letzte verfügbare Heizmaterial. Die Beziehung zur Tochter ist ein Chatverlauf, funktional, digital aber blutleer. „Aber ein Foto ist keine Umarmung“, heißt es an einer Stelle des Romans.
Die Autorin schildert eine Muttereinsamkeit, die nichts Sentimentales hat, sondern etwas existenziell Zeitgenössisches. Der erzwungene Lösungsprozeß wird intensiv und psychologisch einfühlsam beschrieben.
Die Sprache trägt unverkennbar die Handschrift der Poetry-Slammerin Medusa: rhythmisch, pointiert, von witzig bis bissig, immer mit einem Schimmer wienerischen Charmes. Kapitelüberschriften und Dialoge zeigen ihren spielerischen Umgang mit Sprache, während die souveränen Wechsel zwischen Zeitebenen daran erinnern, dass hier eine Autorin schreibt, die weiß, wie Text atmen muss.
Dabei engagiert sich Medusa nicht nur für die Innenwelten ihrer Figuren. Sie stellt ihre Frauen in einen gesellschaftlichen Resonanzraum: Verarmung, Klimaschutz, Alltagsrassismus, nichts wirkt aufgesetzt, alles schwingt im Rhythmus der Geschichte.
Und dann ist da Wien. Dieser Stadt wird in diesem Roman eine Liebeserklärung gemacht. Man spürt sie in jedem Dialog, in jeder Geste, im Unterton. Wien lässt Melanie nicht fallen aber es fordert sie heraus. Ein urbanes Gegenüber, das weder tröstet noch verhöhnt, sondern einfach da ist, oft schön.
Der Titel „Hätte ich es vorher gewusst, hätte ich es genauso gemacht“ kann als Antidot zur Reue gelesen werden. Ein Satz, der akzeptiert, dass das Leben aus Fehlern, Zufällen und Brüchen besteht und dass auch eine untergehende Welt manchmal noch einen neuen Horizont bereithält. Vielleicht nicht heute. Aber irgendwann.
Mieze Medusa gelingt über die Frage, wer wir werden, wenn wir das Liebste verlieren und darüber, wie man sich ein Leben zurückerobert, das durchaus lebbar ist.



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