„Gentlemen über Bord“ von Herbert Clyde Lewis

„Die Leute denken so lange nicht an den Tod, bis er sie fest anpackt. Seite 130 

Was für ein feines wiederentdecktes Kleinod hat der Mareverlag da gehoben! Herbert Clyde Lewis’ Gentlemen über Bord aus dem Jahr 1937 ist ein Roman von solch kristalliner Intensität, dass man unwillkürlich Hildegard von Bingen bemühen möchte: „Ein Körnlein kann eine Lawine lostreten.“ Oder, um es mit Elke Heidenreichs Urteil im Klappentext zu sagen: „Das ist das Beste, was ich seit Jahren gelesen habe!“

Lewis erzählt die Geschichte von Henry Preston Standish, einem Gentleman in dritter Generation. Mitte dreißig, verheiratet mit einer Dame, die gepflegt durchs Leben geht und lange hübsch bleiben wird, führt er ein Leben im annehmbaren Luxus. 

Er ist sportlich, korrekt gekleidet, geformt durch eine strenge Erziehung, die ihm die lebhaften Farben entzogen hat. 

„Tatsächlich war Standish einer der ödesten Männer auf der ganzen Welt.“ (S. 39)

Der amerikanische Roman erinnert im Duktus zuerst an eine verschmitzte Variation auf Christies Hercule Poirot: ein leicht egomanischer Gentlemen, feinsinnige Ironie, ein Panoptikum schillernder Figuren, präzise Beobachtungen der Gesellschaft. 

An Bord der Arabella begegnet Standish einem Kaleidoskop von Menschen vom soziophoben Kapitän bis zum schüchternen Farmer, Damen und Herren jenseits seiner wohlgeordneten Kreise. Mit denen er gern in den Austausch geht. 

Doch dann genügt ein Ölfleck. Ein unglücklicher Tritt, ein kurzer Rutsch und Standish findet sich im endlosen Pazifik wieder. „Nur Mut, Mensch, nur Mut!“ (S. 81) ruft er sich zu, während er zum Spielball der Wellen und seiner eigenen Stimmungen wird. Angst, Scham, Wut und die Einsamkeit wechseln sich ab. Er begreift jetzt die Kostbarkeit seines Lebens, dessen er sich vorher nicht so gewiß war. 

Lewis zeichnet dieses langsame Abgleiten ins Existentielle mit einer Intensität, die den Lesenden in seinen Kosmos zieht.

Das Meer wird zur Bühne des Selbstgesprächs. Standish sucht noch ein imaginäres Publikum, hofft auf die Rückkehr der Arabella, glaubt, seine Abwesenheit müsse auffallen, eine Lücke hinterlassen. 

Doch deren Gedankenlosigkeit erahnt er nicht, er ist aus ihrer Welt gekippt und damit ich mehr Teil ihrer Gesellschaft.

Literaturhistorisch betrachtet nimmt Gentlemen über Bord eine erstaunliche Zwischenstellung ein. Er erscheint im Jahr 1937, also in einer Epoche, in der die großen amerikanischen Romane meist monumentale Gesellschaftsbilder entwarfen Man denke an Steinbeck und Faulkner. 

Lewis hingegen wählt die Miniatur, die Verdichtung, den beinahe kammermusikalischen Ton. 

Dass der Roman seinerzeit als „zu leicht“ empfunden wurde, liegt wohl auch daran, dass er nicht dem gängigen Erwartungshorizont entsprach. Und doch nimmt er, aus heutiger Sicht, einiges von der existenzialistischen Literatur nach dem Krieg vorweg: zum Beispiel, das Sich-Ausgesetzt-Fühlen in einer indifferenten Welt.

Dass dieses schmale Werk nun wieder greifbar ist, verdanken wir einer verlegerischen Aufmerksamkeit, die auf Substanz setzt.

Große Literatur bemisst sich in der Seitenzahl, sondern in der Verdichtung der Erfahrung.

So ist Gentlemen über Bord ein grandioses Werk, das in seiner Mischung aus Ironie, Menschenkenntnis und existenzieller Wucht nichts an Frische eingebüßt hat.

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