„Die Verletzlichen“ von Sigrid Nunenz

„Liebe ist deshalb so schmerzhaft, weil zwei Menschen immer mehr wollen als zwei Menschen geben können“.

Seite 123

Als eine gute Freundin der namenlosen Erzählerin in Kalifornien strandet, erklärt sie sich bereit, sich um deren Wohnung in New York zu kümmern – samt temperamentvollem Papagei. In der Wohnung trifft sie auf einen jungen Mann, dem sie aus dem Weg zu gehen versucht. Doch ein anfängliches Ertragen mündet schließlich in einer Sorge füreinander, während die Welt ihren Rückzug vor COVID antritt.

Sigrid Nunenz entwickelt eine fortlaufende Geschichte die während des Lockdowns in New York spielt.

Doch diese Geschichte ist nur der Kanal für ihren Strom faszinierender Gedanken. Ich schwimme mit im Strom ihrer Fragen auf unsere Zeit und tauche mit ihr tief in ein Labyrinth philosophischer Gedankenspiele.

„Aber ohne männliche Stärke käme die Welt knirschend zum Stehen“. Seite 53

Ist Mann der Verursacher von Gefahr oder deren Beseitigung? Hat er etwas Archaisches, dass eine Frau nicht hat? Ist deshalb sein Stellenwert höher als der einer Frau? Finden Frauen Sicherheit bei Männern, die diese bei Frauen selbst nicht finden würden?

Richtig oder falsch, gibt es überhaupt ein schwarz/weiß hier.

Oder wie ist es mit der Büchse der Pandora? Weshalb hält eine Frau die Büchse?

„Aber was machte die Hoffnung überhaupt in einer Büchse mit Übeln? Das die Hoffnung bleibt, ist eine verbreitete Lesart des Mythos gleichgültig, welche Übel über uns kommen, gleichgültig, wie viel Leid wir ertragen müssen. Es gibt immer den Segen und den Trost der Hoffnung, um uns durch alles hindurch zu helfen“.

Allerdings ist nach Nietzsche die Hoffnung auch ein Übel, denn sie verlängert die Qualen der Menschen die bis zuletzt daran hängen.

Diesen fragmentarischen Denkanstößen folgen weitere.

Alle hochinteressant und streitbar. So wie ihre Einstellung zur Wahl Trumps, die die Autorin mit einem überwältigenden Gefühl der Scham erlebte. Sie wird persönlich und spricht dem Gros der Amerikaner ihre geistige Gesundheit ab.

Nach solchen Tieftauchgängen lässt sie mich wieder aufsteigen und mühelos Steige nehme ich den roten Faden wieder auf.

Die Namenlose spaziert durch das leere New York. Die Pandemie hat die Stadt entvölkert.

Diese laute Metropole voll von Licht und Müll atmet nicht mehr.

Sie beobachtet Vögel im verlassenen Central Park und verspürt den Wunsch, dass diese Pandemie weitergehen könnte, so das die Millionen Einwohner und fehlenden Touristen nie zurückkehren würden. Atem holen. Endlich hat man Zeit für etwas, von dem man vorher immer abgelenkt gewesen war, etwas Gewöhnliches , ein Vogelzwitschern, unfassbar schön.

Nunenz, ist zu recht eine der großen Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Ihre umfassende Kenntnis der Weltliteratur in ihrem Intermezzo hat mir einen großen Respekt eingeflößt.

Anspruchsvoll und Bravourös!

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