„Die Erinnerungsfotografen“ von Sanaka, Hiiragi

„Das scheint Wohl der Lauf der Dinge zu sein. Seinen Lebensweg zu finden, bedeutet wohl auch, sich allmählich von den Erinnerungen verabschieden zu müssen.“ S.22

In einem kleinen Atelier irgendwo zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Erinnerung und Vergessen, sitzt ein freundlicher Mann mit einem grauen Hemd, das an eine Soutane erinnert. Sein Name ist Hirasaka. Er ist kein Priester und doch wirkt er wie einer. 

Er empfängt die Verstorbenen wie alte Bekannte – auch wenn diese meist nicht wissen, wer er ist oder wo sie überhaupt sind.

Die Autorin Sanaka Hiiragi hat mit Die Erinnerungsfotografen ein leises, fast schwebendes Buch geschrieben. Es ist nicht laut, es verlangt nichts – aber es bleibt. Es erzählt von Hatsue Yagi, einer alten Dame mit verwirrtem Blick, die sich, kaum dass sie begreift, wo sie ist, fragen muss: Bin ich gestorben? – „Ja, gerade“, antwortet Hirasaka schlicht.

Es ist dieser beinahe zärtliche Pragmatismus, der den Roman durchzieht wie ein feiner Faden aus Licht. Hirasakas Atelier ist ein Ort der Vorbereitung: auf das endgültige Gehen. Die Toten – oder vielmehr die eben erst Verstobenen – sollen hier innehalten. Sie wählen Bilder aus dem Archiv ihres Lebens. Eines für jedes Jahr. Ausgeliefert von einem fröhlichen Boten namens Yama, wie aus einem Zen-Gleichnis gefallen.

Die Bilder kommen in eine Drehlaterne – das Leben als flimmernde Bilderfolge. Was wie ein poetisches Ritual anmutet, entpuppt sich als tiefer humanistischer Akt: Die Erinnerung wird nicht bewertet, sondern behutsam ins Licht gerückt. Selbst der aggressive Mann mit seiner schroffen Rede findet in einer einzigen Erinnerung etwas, das ihn milde zeigt. Ein Yakuza- ein wertloser Krimineller mit einer zarten Erinnerung an eine gute Tat.

Hiiragi gelingt etwas Seltenes: Sie schreibt mit einer Sanftheit, die nicht ins Sentimentale kippt. Das Buch liest sich wie eine alte japanische Weise – klar, melancholisch, von Wind und Regen geglättet. Und es duftet nach Moos, nach altem Holz und nach der stillen Mechanik alter Kameras, die die Autorin so liebt.

Dass Hirasaka selbst keine Erinnerungen hat, macht ihn zum perfekten Begleiter. Er urteilt nicht. Er fühlt. 

Und doch – mit jedem Bild, das ein Gast auswählt, lernt auch er. Von der alten Dame erfährt er, dass ihn jemand gemocht haben muss. Vom Kriminellen, dass er kein Täter war. Beim Mädchen schließt sich der Kreis einer zirkulären Erzählstruktur.

Einer Struktur, die nur in Geschichten gelingt, die eigentlich keine Geschichten sein wollen, sondern leise Meditationen über das Menschsein.

Die Erinnerungsfotografen ist ein Roman über das Erinnern, das Verblassen, das Bleiben. Über Bilder, die uns begleiten – oder verfolgen. Und über die tröstliche Idee, dass jemand da sein könnte, wenn unser eigenes Licht zu flackern beginnt. Jemand, der fragt: „Welches Bild möchtest du behalten?“ Und der weiß: Auch ein unscharfes kann das wichtigste sein.

Ein stilles Buch, wie ein Flüstern zwischen den Seiten.

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