„Der Weg“ Jeder Schritt könnte Dein letzter sein von Vera Russ

„Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass sich die Natur gegen mich wenden könnte.“ Seite 71

Was als etwas unkonventioneller Junggesellinnenabschied beginnt, entpuppt sich bald als gnadenloser Trip in die Abgründe weiblicher Freundschaft – und in die tiefen Spalten der Erinnerung. Rebecca Russ, selbst passionierte Wanderin, lässt ihre Leser in Der Weg nicht nur durch das nordische Fjäll stapfen, sondern durch ein Labyrinth aus Täuschung, Misstrauen und psychischer Zersetzung.

Der Startpunkt des Geschehens: Ammarnäs. Von hier aus wollen Julia und ihre langjährige Freundin Nicki die berühmten 78 Kilometer des schwedischen Kungsleden bezwingen – ausgerechnet kurz vor Julias Hochzeit. Statt Sekt und Schleier also Blasenpflaster und Mückenspray. Eine Idee, so wild wie die Landschaft, durch die die beiden Frauen stapfen. Doch was wie eine schrullige Auszeit beginnt, wird zunehmend von dunklen Andeutungen überschattet.

Nicki – drahtiger, dünner, schweigsamer als früher – führt etwas im Schilde, das spürt nicht nur Julia, das spürt auch der Leser. Und als sie am Eingang des Wanderwegs kein gemeinsames Selfie will, als sie heimlich in ihr Notizbuch schreibt, als sie immer wieder gereizt reagiert, beginnt ein unterschwelliges Grollen, das der Roman meisterlich am Köcheln hält.

Das Wetter wird schlechter, der Handyempfang bricht weg – der Weg wird zur Einbahnstraße. Russ erzeugt ihre Spannung nicht mit überdrehten Actionmomenten, sondern mit flackernden Blicken, verschluckten Sätzen, mit dem großen Schweigen zwischen zwei Menschen, die sich einmal nah waren. Die Zivilisation bleibt zurück, nicht nur geographisch. Auch seelisch entfernen sich die Figuren voneinander – oder kommen sich auf erschreckende Weise nahe?

Die große Wendung kommt wie ein Frostschauer. Der Thriller wagt sich tief in die Psyche seiner Figuren vor, spielt mit dem Phänomen der dissoziativen Amnesie – jenem Zustand, in dem das Ich sich selbst nicht mehr ganz gehört. Die Diagnose wirkt vielleicht etwas literarisch zugespitzt, aber das aber nimmt dem Thriller nicht den Reiz: Hier ist nichts platt, alles vibriert unter der Oberfläche.

Besonders eindrucksvoll ist Russ’ Gespür für die Natur. Die Beschreibung der kargen Schönheit, des moosgrünen Nebels, der klammen Kälte – das ist keine Kulisse, das ist ein Gegenüber. Der Kungsleden wird zum dritten Protagonisten dieses Buches: groß, schweigsam, gleichgültig.

Der Weg ist ein Buch, in dem man sich verlieren soll – genau wie seine Figuren. Wer mitgeht, sollte bereit sein, mehr als nur eine Wanderung zu erleben. Denn manchmal führt der Weg in die Dunkelheit der Herzen. 

Fazit: Ein psychologisch fein gesponnener Thriller, der mit Naturgewalt, und großem emotionalen Sog überzeugt. Für Lesende, die sich nicht mit falscher Sicherheit abspeisen lassen und denen der Abgrund lieber ist als der ausgeleuchtete Pfad.

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