„Immer Mehr von Weniger“ von Dr. Anja Osswald

Wer bin »Ich« und was ist »Ich«, wenn dieses -Ich« sein »Ich« vergisst? 

„Immer Mehr von Weniger“ ist ein tief berührendes erzählendes Sachbuch der Tochter, das sich auf sehr persönliche Weise mit dem langsamen Verschwinden der Mutter durch die Demenz auseinandersetzt. 

Die Autorin Anja Osswald verwebt autobiografische Erlebnisse mit philosophischen Reflexionen und zeichnet so ein vielschichtiges Bild dieser zerstörerischen Krankheit.

Zu Beginn wird die Demenz nur in kleinen Aussetzern der Mutter sichtbar. Die Familie lächelt über ihre Vergesslichkeit hinweg, will die ersten Anzeichen nicht wahrhaben. 

Doch dann verdichten sich die Hinweise: Alltagsgegenstände an ungewöhnlichen Orten, Gespräche mit Stofftieren. Wortfindungsstörungen.

Die Kinder drängen die Eltern zu einem Neurologenbesuch, ein schwerer Schritt, denn mit der Diagnose wird das Unausweichliche ausgesprochen. Der Vater verleugnet jedoch weiterhin die Wahrheit, verweigert sich der Erkenntnis und zieht sich in seine eigene Welt zurück. Er will, dass alles so bleibt, wie er es kennt.

So bleibt die Mutter in dieser Phase ohne die helfende Hand ihres langjährigen Partners.

Die Krankheit schreitet voran, die Mutter verliert sich in Wiederholungsschleifen und Erzählungen aus der Vergangenheit. Zwei Jahre dauert diese Phase, eine Zeit der Wiederkehr alter Geschichten, der Verweigerung neuer Eindrücke. 

Die Autorin beschreibt die Phasen des Vergessens auf verständliche Weise, veranschaulicht den Verlauf mit plastischen Bildern. Es ist erschreckend zu lesen, wie sich die Infrastruktur des Gedächtnisses nach und nach auflöst.

Besonders bewegend ist die Darstellung der Mutter als Instinktwesen, das zwar Erinnerungen verliert, aber noch Stimmungen spürt. In den Beschreibungen wird deutlich, wie dieser friedvolle, leichtfüßige Mensch vergeht. Die Unaufhaltsamkeit des Verfalls ist grausam.

Die anekdotischen Erzählungen des Romans über das Leben mit der Demenz vermitteln ein breites Spektrum an Emotionen. 

Ein Lächeln oder ein Lied der Mutter kann Freude bringen, doch ebenso gibt es Momente der stillen Verzweiflung oder der überwältigenden Erschöpfung. 

Die Brutalität dieser Krankheit zeigt sich ungeschönt – bis hin zur Ohnmacht, die am Ende in Gewalt umschlägt, weil die Kraft einfach nicht mehr reicht.

Neben der Mutter steht der Vater als komplexe Figur: regelkonform, bestimmend, mit narzisstischen Zügen und einer fast starren Rechthaberei. Er zieht sich in sein Schweigen zurück, wenn er nicht Recht bekommt. Doch die harte Realität der Pflege lässt sich nicht mit Prinzipien bewältigen. Am Ende steht die Frage: Gibt es eine Co-Demenz? Denn auch der Vater gibt sich nach und nach auf, verliert sich in der Pflege der Ehefrau und löst sich selbst auf.

Die Autorin stellt existenzielle Fragen: Was passiert mit dem Selbst-Bewusstsein, wenn das Gehirn keine neuen Eindrücke mehr aufnehmen kann? Wird man zur leeren Hülle? Ein Leben wie ein Snapchat-Moment – einmal gesehen und dann für immer verschwunden? Diese Reflexionen verleihen dem Buch eine philosophische Tiefe, die den Leser zum Nachdenken zwingt.

Immer Mehr von Weniger ist ein ungeschöntes, ehrliches und zutiefst berührendes Buch. Es fängt die Wucht der Demenz ein, die Ohnmacht der Angehörigen und die Brutalität des unaufhaltsamen Verfalls.

🐸 Mehr Rezensionen: ,
Es sind keine Kommentare vorhanden.