„Tief ins Fleisch“ von Yasmine Chami

„Erneut das warme Gefühl bis in die Eingeweide, wie nach der OP, wenn er sich mit Meriem im Ruheraum der Assistenzärzte traf, die Tür hinter sich abschloß, Feuer in den Lenden, lebendig bis in die Zehen, was hatte alles andere noch für eine Bedeutung gemessen am Fest seines glühenden Leibes?“ Seite 28

Ismail wächst bis zu dem Zeitpunkt in behüteten Verhältnissen auf, als es an die Tür klopft und drei Männer seinen Vater abholen, der dann spurlos verschwindet. 

Vaterlos, mit einer Mutter die über der Suche nach ihrem geliebten Mann all ihre Kraft verliert, mit zwei Schwestern und mit einem autistischen Bruder will er der größte Chirurg seines Landes werden. Er will die Welt besser machen, seinen Vater ehren und den Bruder heilen. 

Letzteres gelingt nicht, denn ein Neurochirurg kann gegen eine Spektrumsstörung wie Autismus wenig ausrichten.

Trotzdem erreicht Ismail sein Ziel. Er wird Neurochirurg und eine Koryphäe seines Fachs in Rabat/Marokko. Bald leitet er seine eigene Abteilung und wird Dozent und gern geladener Gast auf internationalen Kolloquien.

Ismail hat alles erreicht und ergeht sich in Allmachtsphantasien. Er denkt, er würde mit jeder Situation umgehen können. Das er hier irrt, wird ihm zu spät bewusst.

In einer späten Midlifecrisis beginnt er eine triebgesteuerte Demontage seiner Selbst.

Grausam und endgültig verlässt Ismail nach über 30 Jahren seine Frau Médée und seine drei Kinder als Gefangener seines Begehrens zu seiner jungen Kolleginn Meriem. 

Er beraubt sich chauvinistisch selbst, um anschließend über seine festbetonierte, patriarchale Allmachtsstellung, die in Wanken geraten ist, zu reflektieren.

Dabei wird ihm bewusst, dass er sich seines Rückrates entledigt hat, indem er seine Ehe ausgelöscht und damit den Schutz seines heimischen Umfeldes verlor.

Doch nicht nur die Selbstzweifel eines Getriebenen sind Thema des Buches.

Die Geschlechterverhältnisse in der marokkanischen Gesellschaft kommen zur Sprache. 

Die Stellung der Frau, die scheinbar am Rand der Männerwelt steht und eher zu dienen hat als wirklich eine Rolle zu spielen wird hier näher beleuchtet.

Und so stoßen wir überraschend auf Frauen, die sich trotz aller Widrigkeiten durchsetzen.

Sei es in der Figur der Mutter von Ismails Mutter Hourya, die die Suche nach ihrem Mann nicht aufgibt und die 4 Kinder allein großzieht. Oder Médée, die verlassene Ehefrau, die alles nach ihrem Mann Ismail richtete und trotzdem als Künstlerin ihre Eigenständigkeit erlangte, und zuletzt die Geliebte Meriem, die als Assistenzärztin brillierte und sich in einer Männerdomäne behauptet. 

Auch die Frage nach dem Patriarchat und was es mit den Männern macht, wird gestellt. Die Antwort kommt schnell. Sie ergehen sich in Selbstbeweihräucherung und dem ewigen Wettlauf um die Macht.

Eindringlich schreibt die Autorin über das herrschende System in Marokko. Sie findet  deutliche Worte. 

„… keine Ungerechtigkeit, war je behoben, und diejenigen, die ihr Leben zerstört hatten, waren ungestraft geblieben, nichts hatte das Regime erschüttert, dass auf Korruption und Verachtung des menschlichen Lebens errichtet war; …“ Seite 78 

Yasemine Chami schont ihre Protagonisten nicht. Sie schneidet buchstäblich tief ins Fleisch. Mit beinahe medizinischer Präzession legt sie Ismails Dilemma und seine Selbstqual frei. Trotz des oft gelesenen Plots, reicher, älterer Mann verlässt Familie für junge Geliebte, wird Chami nie klischeehaft. 

Sie betrachtet Ismail im Kontext seines Lebens und der Tradition seines Landes. Damit schafft sie es in großartiger Sprache Ismails Entscheidung zumindest nachvollziehbar zu machen.

Einen kleinen Minuspunkt hätte ich aber doch. Die Reflektion Ismails artete schon fast in Lamentiererei aus und wird für meinen Geschmack zwar tiefenpsychologisch aufgearbeitet doch zu oft hervorgehoben.

Sehr lesenswert!

Wunderbar übersetzt von Claudia Steinitz

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