„Die Passagierin“ von Franz Friedrich

„Wie viel schöner ist es, ein Glück zu teilen, anstatt es immer gegen andere verteidigen zu müssen?“ Seite 370

Zeitreisen waren schon immer eine spannende Mischung aus wissenschaftlichen Theorien und spekulativer Fiktion. Doch in einer nicht näher definierten Zukunft sind sie machbar.

Es werden über 300.000 Menschen aus verschiedenen Zeitaltern evakuiert. Alle haben eines gemeinsam. Sie waren dem Tod geweiht und erhalten durch dieses Evakuierungsprogramm eine zweite Chance.

Und hier liegt die erste Problematik dieses Buches. Zwar wurden diese Menschen dem sicheren Tod entrissen, doch damit auch der eigenen Geschichte beraubt. Herausgenommen aus einem System, dass sie kannten, dass sie geprägt und sozialisiert hat.

Die Anpassung an das jetzige System soll in Kolchis in einer Art Umschulungsheim gelingen. 

Der Roman geht von der Annahme aus, dass Menschen aus völlig unterschiedlichen historischen Kontexten und mit verschiedenen Prägungen sich durch einen „Crash-Kurs“ schnell an moderne, westliche Lebensweisen anpassen könnten, um dann ihren Beitrag in der neuen Gesellschaft zu leisten. 

Wie unrealistisch diese Überlegung ist, sehen wir in der Integrationsproblematik unserer heutige Zeit. (Vielleicht soll uns aber dieser Roman auch nur einen Spiegel dazu vorhalten?)

Einige wenige Menschen haben Kolchis noch immer nicht verlassen und andere, wie die Protagonistin Heather, kommen wieder dorthin zurück.

„Kolchis, ein Ort der Erinnerung, eine bloße Museumsstadt, doch es ist mehr, denn noch leben Menschen da. „Jemand bleibt immer“ S. 90

Doch Kolchis hat sich seit dem Ende des Evakuierungsprogrammes verändert. 

Einzelne Gebäude sind schon lange geschlossen. Möwen brüten in den oberen Stockwerken dieser Sanatorien – ein Lost Place. 

Überall herrscht Verfall und der Bambus erobert sich seinen Lebensraum zurück. Auch im Inneren der Gebäude  ist alles angestaubt, mit Gerümpel vergangener Jahre vollgestellt, Farbe blättert ab. Es riecht nach Fäulnis und nasser Kleidung.

Die Passagierin Heather wird von den wenigen Bewohnern Kolchis freundlich aufgenommen. 

Im Laufe Ihres Aufenthalts entfalten sich Konflikte und intensive Diskussionen über den Sinn und die Grenzen solcher Rettungsaktionen. 

Begründet wurden diese mit einer Art historischen Schuldhaftigkeit dem nachfolgende Generationen begegnen wollten.

Doch hier wird nicht plausibel, weshalb diese Menschen gerettet werden mussten, denn für die derzeitige Gesellschaft scheinen sie nicht unbedingt erforderlich zu sein.

Welchen Part sollen sie ausfüllen? Eine bloße Aussöhnung mit der eigenen Vergangenheit durch die Rettung Einzelner. Der Erhalt eines geschichtlichen Bewusstseins?  Aber dazu werden die Evakuierten zu beliebig eingesetzt oder stellt es am Ende eine Art Forschungsprojekt am lebenden Objekt dar? Darüber erfährt der Leser zu wenig und ist hier auf seine Deutung angewiesen.

Grandios ist die Figur des ehemaligen Landsknechts Matthias angelegt, der vom einfachen Landsknecht des 15. Jahrhunderts zum philosophischen Denker wird. 

„Es ist ein Lachen, das eben so gegen ihn gerichtet ist, wie es für ihn spricht, ein Lachen, in dem Verehrung zum Ausdruck kommt und Verachtung mitschwingt.“ Seite 85

Er erkennt das unausgeschöpfte Potenzial seiner Epoche und das der gesamten Menschheit.

Heather freundet sich mit Matthias an und erfährt durch ihn, wie sie einen Weg für sich finden kann.

Franz Friedrichs Roman *Die Passagierin* ist eine faszinierende Mischung aus Zeitreise-Abenteuer und philosophischer Reflexion über Reue, Verlust und menschlichen Determinanten. Er ist originell und zieht den Leser schnell in seinen Bann.  

Der Roman zeichnet sich durch eine melancholische, unaufgeregte und manchmal leicht skurrile Atmosphäre aus, die u a. durch die utopischen Elemente entsteht.

Der Roman stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 und ich spreche sehr gern eine Leseempfehlung für ihn aus, denn trotz einiger unrunder Passagen ist es ein guter Text der philosophisch in die Tiefe geht. 

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