„Aber wozu sind wir dann hier, wenn nicht, um unsere Träume zu verwirklichen. Um die Träume eines einzigen Jungen zu verwirklichen? Weil alle anderen aufgehört haben, zu träumen? Oder hat der Traum des einen die Träume der anderen aufgefressen?“ Seite 136
Die Abraumberge meiner Kindheit verwandelten sich in die Täler des wilden Westens. Der riesige Abraumbagger mit seinem rostigen Schrei war die eiserne Burg der Gegenseite. Mitten durch unser aufgerissenes Land führte ein Kriegspfad.
Wir waren Gojkos Indianer und folgten schwarzer Feder. Über uns kreisten die Krähen, die wir für Geier hielten, und die nur darauf warteten, dass einer von uns im Kampf viel.
Denn die Söhne der roten Bärin lauerten hinter den Abraumbergen. Lautlos zischte ein Pfeil heran und steckte tief in meinem Arm. Getroffen !
Die Narbe trage ich heute noch in Erinnerung an einen großen Kampf.
Damals spielten wir noch in goßen Kindergruppen rekrutiert aus der gesamten Nachbarschaft. Die Eltern setzen uns und unsere Geschwister vor die Tür und erwarteten eine Rückkehr erst zu den Essenzeiten. So entstanden große Spiele, denn alle wollten Entdecker sein. So wie in „Matara“ diesem Roman von Matias Riikonen.
Die Materaner sind finnische Jungen im Alter von ca. 7 bis 15 Jahren, die ihre Sommerferien in einer Einrichtung verbringen. Die Einrichtung wird nicht näher beschrieben und hat auch keinen Platz im kindlichen Spiel. Der Leser erfährt nur, dass sie Nachts zum schlafen zu den Pflegerinnen der Einrichtung zurückkehren und zumindest geschmierte Brote mithaben.
Ihr Staat „Matara“ befindet sich tief im finnischen Wald.
Dieser Ort besteht nicht nur aus ein paar zusammengezimmerten Holzleisten. Er ist ein gewachsenen System mit einer eigenen Wirtschaftstheorie.
Sie haben Hütten erbaut, eine Kampfarena, Thermen und ein Amphitheater.
Senatoren und Konsulen wurden gewählt und erlassen oder befolgen Gesetzte. Es gibt Arbeiter, Soldaten, Schauspieler, Maler und Architekten. Jeder hat eine Aufgabe im Staat, zahlt Steuern und bekommt einen Lohn für seine Arbeit um sich Annehmlichkeiten wie ein Bad oder einen Theaterbesuch leisten zu können. Ein komplexes Gemeinwesen ist dadurch entstanden.
Es gibt nur ein unumstößliches Gesetz. Die reale Welt muss außerhalb von Matara bleiben.
„Ave Matara“
„Plötzlich ragte eine Steilwand auf…..Hier und da gab es Einbuchtungen, und in jeder davon eine oder mehrere mit Reißig bedeckte Hütten…. In den Öffnungen der Hütten, flackerten Sturmlaternen, und solche hingen auch von den Ästen der höchsten Ahornbäume, die über die Felswand ragten. In einigen Einbuchtungen brannten Lagerfeuer. Seite 31
Diese Jungen träumen einen komplexen Traum. Jeder ist Teil dieses Traumes. Egal ob arm oder reich, krank oder klein. Alle werden eingebunden in eine wichtige Aufgabe, die diese mit unglaublicher Ernsthaftigkeit ausführen.
So erfahren wir vom großen und vom kleinen Bruder, die als Späher die Staatsgrenzen beobachten. Der Kleine lernt vom Großem das lautlose Bewegen im Wald. Die Aufgabe ist wichtig, denn der Staat hat Feinde. Die Parten, Kollier oder Kermen könnten sie überfallen und versklaven. Oder man könnte sie überfallen, Beute und Kriegsgefangene machen. Eine martialische Welt.
Der wilde und üppige, finnische Wald bildet das Gegengewicht zur reichen Kultur, die die Jungen erschaffen haben.
Vollmundig wird die Natur beschrieben. Das Rauschen der Bäume, die Welt der Insekten und Gräser, das Schmatzen der sumpfigen Böden alles gehört zur wunderbaren Begleitmusik der kindlichen Imagination. Sie gibt dieser Fantasie einen lebendigen, wandelbaren Rahmen. Dies geschieht durch die Körperlichkeit des Textes von Riikonen.
„Die Libellen und Schmetterlinge schwärmten über dem Dickicht, fast als hätten sie die Erstarrung der Landschaft geboren, so wie der Verstand in Ermangelung von Sinneswahrnehmungen Illusionen gebären kann“. Seite 122
Zu Beginn des Romans „Matara“ liebäugelte ich noch mit der Peter Pan Story. Doch tatsächlich ist dieser Roman so viel mehr. Sein Vorbild hat Matara im alten Rom. Die Spiele der Jungen sind von der Antike inspiriert und ihre Reden eines Cicero, Plutarch oder Tacitus würdig.
Vergleichbar ist das Buch vielleicht nur mit: „Die Jungen von der Paulstraße“ des ungarischen Schriftstellers Ferenc Molnár.
Frauen existieren in „Matara“ höchstens in der Gestalt von Puppen, die eher dem Vergnügen der Besitzer dienen. Diese sind stolz eine Puppe zu besitzen und machmal wirkt der Umgang mit ihnen wie ein Mutterersatz, manches mal aber auch als Sehnsuchtsort feuchter Träume. Einer Wertung möchte ich mich hier gern entziehen, da es den Inhalt kaum tangiert.
Der Autor sagt über sein Buch:
„Kinder gelten als kindlich. Ihre Fähigkeiten werden unterschätzt und ihre Handlungen werden nach den Maßstäben der Erwachsenen beurteilt, nicht nach ihren eigenen Dingen, die mit der Kindheit verbunden sind, werden nur im Hinblick auf die breitere Lebensgeschichte einer Person, ihr individuelles Wachstum, das Werden des eigenen Selbst, als bemerkenswert angesehen“.
Und damit hat er wohl recht, denn wir verlieren mit zunehmendem Alter die Kraft der Imagination. Ein glitzernder Stein ist ein Stein und kein Schatz mehr, der Wünsche wahr macht und unser Trutzburg nur noch ein Deckenhaufen über dem Tisch. Wäre es nicht schön, wieder im großen Bällebad kindlicher Phantasie zu versinken? Mit diesen Buch gelingt es.
Schlusswort des Autors Riikonen:
„Für mich ist Literatur in erster Linie ein Weg, die Welt in ihrer fantastischen Fülle zu lieben. Was Matara betrifft, so geht es auch darum, diese Welt ernst zu nehmen. Wenn ich den Jungen und ihrer Realität gerecht werden will, muss das Buch reich an der Welt sein, die es schafft, und auch reich an Sprache“.
Ich möchte das Buch uns allen ans Herz legen. Hört dabei „Abenteuerland“ von Pur und dreht ein wenig an der Zeit.