„Hinter den großen Bäumen im Hof ging die Sonne allmählich unter und versteckte sich im Brunnen, wie meine Oma zu sagen pflegte.“ Seite 9
Kennt ihr dieses Spiel, bei dem man mit den Fingern auf den Tisch trommelt und einer ruft: „Alle Vögel fliegen…“ hoch wird gerufen und man reißt die Arme nach oben?
Alle Krähen fliegen… hoch, die Arme hoch, alle Tische fliegen… hoch, nein! Arme runter, Mama fliegt…
Der kleine Amir wacht auf und irgendetwas hat sich verändert. Er kann seine Mama nirgends zu finden.
Sie ist in der Nacht zu einer Tante gegangen, hat nicht beim Vater geschlafen.
Wann kommt sie zurück, fragt Amir seine Oma Amin.
Diese Frage wird Amir und sein kleiner Bruder Madjid noch häufiger stellen.
Beide Kinder leben in einem kleinen Haus. Das Haus ist voller Menschen, denn alle Onkel und Tanten nebst Eltern und Großeltern wohnen mit ihnen dort.
Ein eigenes Zimmer hat er nicht. Das Leben spielt sich in einem einzigen Raum ab. Hier wird die Essdecke ausgerollt um gemeinsam eine einfache Mahlzeit zu essen, später werden die Schlafdecken für die Nacht ausgepackt. Die Körper liegen dicht an dicht bis der nächste Morgen sie weckt und die Männer zur Arbeit oder ins Teehaus gehen.
Das Leben der Familie ist beschwerlich im tiefreligiösen Iran der 1950er Jahre.
Doch die Liebe der Mutter hat oft über den Hunger hinweg getröstet. Der Kleine vermisst ihr Lachen, ihr gemeinsames Spiel. Er möchte mit ihr wieder die Sonne einfangen oder seinen Schatten jagen. Verzweiflung macht sich in diesem kleinen Kerl breit.
Im Schrank, dem einzigen Möbelstück das der Familie gehört, entdeckt er, dass Mamas Kleider fehlen.
Aufgeregt berichtet er seiner Oma Amin, dass wohl ein Dieb ins Haus gekommen sein muss, der Mama‘s Kleider gestohlen hat. Doch Amin sagt, es wäre noch viel schlimmer. Der Dieb hätte auch die Besitzerin mitgenommen und sie wünscht ihm ein schlechtes Leben.
Mit jedem Tag der vergeht schwindet Amirs Hoffnung auf die Heimkehr der Mutter. Er sucht nach einer Erklärung, weshalb die Mutter die Familie verlassen hat. Liebt sie ihn etwas nicht mehr? Ist er schuld?
Es ist so schmerzhaft zu beobachten, wie diese kleine Kinderseele fast an der Trauer zerbricht. Wie sich der Junge immer weiter in seine Phantasiewelt zurückzieht, still und dünn wird.
Wäre da nicht diese großartige Frau Amin, seine Großmutter, die versucht ihm all ihre Liebe zu geben obwohl sie selbst kaum Liebe kannte.
Der Vater ist keine große Hilfe. Er versinkt selbst in Trauer.
Der Rest der Großfamilie kämpft gegen die gesellschaftliche Ächtung von außen. Sie halten mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg.
Die Familienehre wurde beschmutzt und damit wird diese Frau zur Hure degradiert, die keinen Platz mehr in der Familie hat ob die Kinder leiden interessiert hier nicht. Einzig die Großmutter Amin zeigt hier ein großes Herz für ihre Schwiegertochter Zahra.
Zahra hat sehr jung geheiratet. Schnell kamen ihre beiden Söhne zur Welt.
Jeder Tag war erfüllt mit harter Arbeit im Haushalt. Ihr Mann Mamal arbeitete lange in der Tischlerei und traf sich dann mit seinen Genossen um über Politik zu diskutieren.
Sie hasste Bücher, wollte Leichtigkeit und Leben, bunte Kleider und Frohsinn. Sie war jung und das Leben muss doch noch etwas anders für zu vorgesehen haben.
Ein anderer Mann würde ihr dieses Leben vielleicht zu Füßen legen. Die Konsequenzen bedachte sie nicht, auch nicht die Verachtung, die ihr entgegenschlagen würde und sicher nicht den Schmerz über die Trennung von ihren Kindern.
Der Autor Omari erzählt seine Geschichte aus der Sicht eines kleinen Jungen, dessen Welt durch den plötzlichen Weggang der Mutter völlig zusammenbricht .
Es fällt der Großmutter Amin zu sich um den Jungen zu kümmern, ihm Geborgenheit zu schenken und ihn noch etwas vor der Welt zu verstecken, bevor er begreift, wie schwer das Leben ist.
Diese einzigartige, schmerzhafte Erzählung wertet nicht. Sie zeigt, dass langsame Begreifen eines Kindes, seine Hoffnung, seine Trauer und die tiefe Mitmenschlichkeit der Großmutter, die auch Verständnis für die untreue Mutter ihres Enkels aufbringen kann.
Trotz der vorherrschenden Meinung der Erwachsenen, dass ein Kind kein vollwertiger Mensch ist und nicht gehört werden muss, kümmert sich jedes Familienmitglied auf seine Art und Weise und gibt den verlassenen Kindern durch den Familienverbund Halt.
Doch neben dieses so melancholisch- traurigen und doch so warmherzigen Textes muss ich unbedingt noch etwas zum Buch selbst sagen.
Das Buch ist ein kleines Kunstwerk. Was für eine feine Bindung! Was für eine Haptik!
Es ist eine Lust es in der Hand zu halten und durch die schweren weißen Seiten zu blättern.
Das himmelblaue Lesebändchen findet seine Entsprechung in dem tollen Cover von Svetla Georgieva. Sie übertrifft sich hier selbst und fängt die Stimmung des Buches on point ein.
Im oberen Teil des Covers glänzen 3D Ornamente und adeln dieses Buch zu einem kleinen Schatz. Einem Leseschatz, den ich jedem gern ans Herz legen möchte.
Übersetzt wurde das erstmals 2015 in Teheran erschienene Buch von Ajda Omrani.