„Schöne Scham“ von Bianca Nawrath

„Ich frage mich, ob er (der Schmetterling) weiß, wie schmal der Grad zwischen Fliegen und fallen ist.… Seite 236

Bianca Nawraths Roman „Schöne Scham“ nimmt sich eines Gefühls an, das wohl jede und jeder kennt und doch so schwer zu fassen ist. Scham ist vielgestaltig, sie nistet sich in den Ritzen des Selbst ein, macht sich körperlich bemerkbar, lässt uns erröten, wegsehen, verstummen. Sie ist eines jener Gefühle, die man nicht vorzeigen möchte, und gerade deshalb legt Nawrath sie ins Zentrum ihrer Erzählung.

Die Geschichte beginnt vermeintlich idyllisch. Zwei Paare verbringen ein paar Tage in einem Sommerhaus am Meer. Dazu stößt Ola, die Cousine von Kata. Kata wiederum ist die gewissenhafte Planerin, die mit ihrem Freund Lenny einen Mann an der Seite hat, der lieber Konflikten ausweicht, als sie auszutragen. Sein Freund Christian wiederum, der selbsternannte Alphamann, lebt mit Amalia zusammen, die nach außen hin alles zu haben scheint. Der dritte Frauencharakter, Single Ola, stellt mit ihrer unabhängigen Haltung einen Kontrast dar. Damit sind die Rollen zunächst klar verteilt, fast zu klar, denn die Figuren treten eher als Typen denn als sich entwickelnde Charaktere auf.

Die Autorin erleichtert damit zwar den Einstieg und schafft schnelle Identifikationsangebote, nimmt den Figuren jedoch einen Teil der Vielschichtigkeit, die man sich beim Lesen erhoffen würde. Dass die Kapitel durch die Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling gerahmt sind, ist ein hübscher Einfall, wirkt aber wie ein Hinweis, der zu viel verrät. Das Überraschungsmoment, das man von einem Roman erwartet, verliert sich, wenn die Symbolik zu stark den Weg vorgibt.

Stilistisch interessant ist die Entscheidung, die drei weiblichen Stimmen abwechselnd zu Wort kommen zu lassen. Anfänglich mag das den Zugang erschweren, doch entfaltet sich bald ein Mehrklang, der deutlich macht, warum die Frauen handeln, wie sie handeln. Gerade in diesen Perspektivwechseln zeigt Nawrath ihre Stärke. Die Innenwelten der Figuren werden erfahrbar, ihre Verstrickungen mit der eigenen Scham ebenso wie die Verstrickungen miteinander.

Manchmal allerdings wird die Scham zu oft benannt, beinahe etikettiert. Dabei traut man dem Text durchaus zu, das Gefühl auch ohne Namensnennung hervorzurufen. Die Szenen tragen es in sich, die zwischenmenschlichen Spannungen, die Momente der Bloßstellung oder des Verschweigens. Dort, wo Nawrath es andeutet statt zu benennen, wirkt die Scham am eindringlichsten.

Besonders gelungen ist die Dynamik zwischen den Paaren. Während Christian in der Rolle des Antagonisten erstarkt, entfaltet sich ein Geflecht aus latenter Aggression, passiver Zurückhaltung und offenen Verletzungen. Diese Spannungsbögen tragen den Roman über weite Strecken und lassen den Leser spüren, wie schnell Nähe in Distanz umschlagen kann.

„Nein sagen, wenn man nein denkt.“ Dieser Satz verweist auf den schmalen Grat, auf dem Stolz in Scham umkippt, wenn man sich selbst verleugnet. Bianca Nawraths „Schöne Scham“ ist damit ein Buch über das Hinschauen und Wegschauen, über die Frage, wie viel Authentizität wir ertragen und wie sehr wir bereit sind, uns in Rollen einzurichten, die uns nicht gerecht werden.

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