„Meine Trauer war hart, kalt und leise. Sie war leer. Ich war leer. Seite 254
In einer Zeit, in der Machtverhältnisse zunehmend hinterfragt und offen gelegt werden, erzählt Hattie Williams in Bittersüß von einer Beziehung, die still beginnt – und doch von Anfang an ein Ungleichgewicht in sich trägt. Es ist die vertraute Geschichte von Anziehung und Abhängigkeit, doch Williams gelingt es, sie mit feinem Gespür für Zwischentöne anders zu erzählen.
Charlie, eine junge Verlagsmitarbeiterin, ist gerade erst in der Erwachsenenwelt angekommen, als sie auf Richard Aveling trifft – den gefeierten, international erfolgreichen Autor und Lieblingsschriftsteller ihrer verstorbenen Mutter. Der Altersunterschied zwischen den beiden: drei Jahrzehnte. Was auf den ersten Blick wie ein moderner Liebesroman anmutet, entpuppt sich bald als verstörende Chronik einer einseitigen Affäre – oder genauer: eines ungleichen Machtspiels.
Richard ist nicht nur älter, sondern auch erfahrener, dominanter, abgehobener. Charlie hingegen ist die Suchende: nach Halt, nach Bedeutung, nach einer Form von Liebe, die sie seit dem frühen Tod der Mutter entbehrt hat. Ihr Trauma ist leise, aber tief – und macht sie zur idealen Projektionsfläche für den alternden Egozentriker. Sie ist die „perfekte Zuhörerin“, wie es so oft heißt – im eigenen Leben.
Und doch liest man bis zur letzten Seite, obwohl das Ende unausweichlich scheint. Das liegt weniger an überraschenden Wendungen als an der Art, wie Williams erzählt: mit einer Sprache, die elegant und leichtfüßig ist, ohne oberflächlich zu sein. Sie lässt uns tief in die Welt von Charlie eintauchen – in ihre Unsicherheiten, ihre Hoffnungen, ihre Selbsttäuschungen. Ein Satz wie „…doch es war wie beim ersten Schnee, den man erschnupperte, noch bevor er fiel“ (S. 79) beschreibt zart jenen Moment, in dem eine junge Frau glaubt, Liebe zu wittern, wo lediglich Interesse flackert.
Bittersüß lebt von Momenten. Die atmosphärischen Sommertage in Frankreich etwa gehören zu den gelungensten Passagen des Romans. Hier zeigt Williams ihre größte Stärke: das Einfangen von Stimmung. Der Sommer liegt auf der Haut, die Jugend in der Luft, alles wirkt leicht, frei, voller Möglichkeiten. Es sind diese Kontraste – zwischen der Illusion und der Kälte danach –, die das Buch tragen.
Psychologisch bleibt Bittersüß eher an der Oberfläche, doch das ist kein Mangel, sondern eine bewusste Entscheidung. Die Autorin zeigt zwar Charlies Innenleben seziert es aber nicht analytisch, sondern tastet sich heran über Verhalten, Atmosphäre und Dialog.
So wird Charlies langsames Abrutschen in eine depressive Leere umso nachvollziehbarer – und schmerzhafter. Sie gibt alles, was er mag, „danach war er deutlich besserer Laune“ (S. 262) – ein Satz, der mehr über Abhängigkeit erzählt als jede Theorie.
Trotzdem ist Bittersüß kein reines Drama. Es unterhält – mit Stil, mit Tempo, mit einem feinen Gespür für Ambivalenz. Die Beschreibung der Verlagswelt etwa, durch Williams’ eigenen beruflichen Hintergrund vermutlich gespeist, wirkt glaubwürdig und lebendig. Und mit Ophelia und Eddy, Charlies Mitbewohnern, gelingt es ihr, kleine Oasen der Wärme zu schaffen – stabile Freundschaften, die gegen den Zynismus der Hauptbeziehung bestehen.
Unterm Strich ist Bittersüß ein moderner Roman über weibliche Selbstfindung im Schatten männlicher Selbstinszenierung. Er erzählt nichts Neues, aber auf eine Weise, die berührt – vielleicht gerade, weil die Geschichte so alt ist. Eine Lektüre, die man rasch verschlingt und deren Nachgeschmack bittersüß bleibt.
[…] „Dieser Band ist keine späte Gedenkplatte, sondern ein Monsterbrillant aus dem Tiefsee‐Schatz der deutschsprachigen Literatur: 15 Geschichten, die zeigen,…